Mittwoch, 31. Juli 2024


 

An die Havel

Erst dachte ich, ich könnte gar nicht fahren. Nach dem Frühstück war mir übel. Nach zwei Stunden ging es wieder. Also nichts wie rauf aufs Rad. Die Strecke musste endlich erkundet werden. Wenn ich mich nur nicht immer von Google Maps in die Irre bzw. die Pampa führen ließe. Biegen Sie links auf Helenenhof. Landen Sie ganz sicher auf einem Sandweg, den Sie mit Ihrem Bike nicht fahren können. Der Hausmann mal wieder in der Rolle des Kundschafters. Nee. Wird nicht besser. Zurück zum Hauptweg. In Joachimstal das gleiche Spiel. Fahren Sie links. Landen Sie auf Kopfsteinpflaster, auf dem Sie mit ihrem Bike nicht. Folgen Sie der Strecke vier Kilometer. Wird nicht besser, sagte der Hausmann, als er wieder da war.

Was ich gestern festgestellt habe – Stress wirkt sich negativ auf den Ausschlag aus, der mich seit ein paar Tagen wieder quält. Das fängt sofort an zu jucken wie verrückt. Die alte Geschichte. Nur größer. Anstrengender. Zusätzlicher Stress ist also gar nicht gut. Ein kühles Bad dagegen schon. Und das hatte ich dann einige Male. Wäre nur der Weg zum Wasser nicht so lang. 20 km fahre ich nicht mal eben so. Obwohl die Strecke schön ist. Sie führt durch Wälder, vorbei an Feldern, Wiesen, einem Friedwald. Sonnenblumenfelder. Auf dem Rückweg standen die hohen Pflanzen wie demütige Pilger, die ihrem Gott huldigen. Ich huldigte der Schönheit der Landschaft. Alles für uns. Für mich. Als Teil des Ganzen. Momente zum Abheben. Hier bin ich richtig.



 

Samstag, 27. Juli 2024


 

Alles andere als düstersinnig

Einmal von den Pappeln in den Schlaf geraschelt werden. Wie gern ich hier unter einem Baum sitze und den Blick langsam über die Wiese gleiten lasse. Der Hund geht schon mal nach Hause. Hey. Warte. Er dreht sich um. Was hat sie denn jetzt schon wieder? Sie soll laufen, nicht sitzen. Ich brauche mehr Pappeln. Ich bin süchtig nach diesen Geräuschen. Wenn ich dem Hund das nächste Mal Gesellschaft leiste, nehme ich eine Decke und ein Picknick mit.

Die Freundin hat mir eine dicke Zucchini hingelegt. Wenn ich die mitnehmen möchte? Sie ist ihr entfleucht. Ich freu mich immer, wenn jemand die alten Wörter benutzt. Aber manchmal sind auch neue schön. Düstersinnig z. B. – ich habe es neulich auf dem Monitor im Bus gelesen, es ist neben Tauverzicht eins der plattdeutschen Wörter des Jahres 2024 – gefällt mir außerordentlich gut. Düstersinnig ist es hier heute gar nicht.

Mittwoch, 24. Juli 2024

Der weite Blick

weitet auch mein Inneres. Es ist genau so, wie die Freundin neulich sagte. Eigentlich wartet man hier immer auf das Meer, das jeden Moment auftauchen müsste. Wenn der Hausmann nicht da ist – ihn zieht es nach Berlin – dann darf ich an seinem Schreibtisch sitzen, darf von seinem Tellerchen essen, in seinem Bettchen schlafen. Das ist schön und gilt natürlich auch umgekehrt. Hinter dem Deich, hinter den Wiesen, dem Wald, da könnte das Meer sein. Die Wolken darüber erzählen Geschichten. Vom Hasen, der dem Bären in den Hintern beißt. Aber ich bin hier, um meine Geschichte zu Ende zu erzählen. Nicht zu Ende, denn natürlich geht es immer weiter. Nur dieses Geschichte, an der ich seit zwei Jahren schreibe, die muss jetzt mal zu einem Ende kommen.

Dienstag, 23. Juli 2024

Im Kühlschrank recht übersichtlich

Nicht mal Brot ist im Haus. Also ohne Frühstück zum Bäcker. Mit duftendem Brot zurück. Der braune Fleck rechts in der Wiese ist ein Reh. Es hebt seinen Kopf, dreht ihn in meine Richtung. Fährt „es“ weiter? Oder bleibt „es“ stehen? Ich lande fast auf dem Feld, weil ich die ganze Zeit nach hinten geschaut habe. Gestern ist ein Storch nur ein paar Meter von einem Reh entfernt auf die Wiese geplumpst. Das Reh ist zur Seite gesprungen, aber nicht weggelaufen. Offensichtlich werden Dinge, die vom Himmel fallen, als ungefährlich eingestuft.

Bevor ich mich an den Schreibtisch setze, schau ich noch schnell in den Dokumentarfilm „Gehen und Bleiben“ von Volker Koepp hinein, den mir der Algorithmus empfohlen hat. Manchmal gibt es tatsächlich gute Empfehlungen. Ein Film über Uwe Johnson. Menschen erzählen von ihrem Leben und von ihrer Verbindung zu dem Autor, von dem ich noch kein einziges Buch vollständig gelesen habe, der mir aber über die Film-Reihe „Jahrestage“ von Margarethe von Trotta (Hanns Zischler fällt mir ein und wie er immer „Geeseini“ sagte), über Christa Wolfs Briefwechsel und viele andere Seitenwege vertraut ist. „Es schien so, als hätte ein Überlebender ruhelos gegen das Vergessen angeschrieben.“ Sagt Volker Koepp gleich am Anfang über seine Wiederbegegnung mit Uwe Johnson. Ein Bruder im Geiste also.



Samstag, 20. Juli 2024

Mittags 30 Grad

Göttin sei Dank findet der Workshop mit Stefan Bassir vor der Kirche statt. Tische und Stühle stehen unter dem großen Baum, bis zum späten Nachmittag weht hier immer ein kleiner Wind. Und dann geht es auch schon los. Stefan erklärt das Procedere, gibt Hinweise, kommt mit immer neuen Ideen und Materialien. Geduldig und zugewandt. Ein guter Lehrer. Ein inspirierender Künstler.

Mit Wachsstiften bearbeiten wir die weiße Fläche von unterschiedlich großen Spanplatten, darüber kommt dann Leim oder Farbe, und nachdem die Oberfläche trocken ist, wird das Ganze mit Schleifpapier oder Metallbürsten wieder abgetragen. Neue Muster entstehen, der Vorgang kann beliebig oft wiederholt werden. Es kann Sand eingearbeitet, andere Materialien oder Farben können benutzt werden. Eigentlich ein andauernder Prozess der Selbsterkundung. Wann ist es fertig? Bin ich irgendwann so weit? Oder brauche ich noch Stunden? Tage?

Später versuchen wir uns an Objekten aus Alufolie. Es wird geknüllt, wieder auseinander gezerrt, geknetet, gewalkt, verdichtet, bemalt. Rein theoretisch könnten nach dem Einsatz von Schleifwerkzeugen ähnlich luftige Werke wie jene von Stefan entstehen, aber das würde mehr Zeit und zumindest in meinem Fall auch mehr Können – oder mehr Übung – erfordern. Egal. Es macht Spaß. Genauso wie das Formen von Figuren, Masken, Blättern aus einer Pampe, die an Ton erinnert, aber kein Ton ist, und die man nicht brennen muss. Hätten wir mehr Zeit, würden wir mit Beton arbeiten, aber da dauert das Trocknen so lange. Nach viereinhalb Stunden bin ich erledigt, erschöpft, fix und, aber sehr, sehr froh und inspiriert. Geradezu glücklich.



Freitag, 19. Juli 2024

Am Vormittag nach Neustadt

Es sind noch ein paar Einkäufe zu erledigen, das alkoholfreie Bier ist ausgegangen, Kuchen haben wir auch keinen mehr, und obwohl ich der Freundin vorschlage, dass sie sich unter die Kastanie setzen und lesen könnte, will sie mich begleiten. In Sieversdorf schauen wir nach dem jungen Storch. Unschlüssig steht er da, pickt mal hier, mal da, vielleicht müssen die Eltern ihn aus dem Nest schubsen. Den Stubenhocker. Ob sie zu den vielen Störchen gehören, die zwischen Hohenofen und Neustadt auf der Wiese stehen?

Obwohl wir pünktlich in der Kirche sind, kommen wir zu spät. Die Vorstellung und das Künstlergespräch haben schon stattgefunden. Ohne uns. Aber wir können Stefan Bassir noch mit Fragen kommen. Geduldig und gleichbleibend freundlich gibt er Auskunft. Wir dürfen auch alles anfassen, in die Hand nehmen, anstupsen. Beton. Holz. Geifernde Köpfe. Ein Engel. Stolpernde, schwankende Figuren, die aussehen, als wären sie aus Metall, hebt man sie dann an, merkt man, wie leicht sie sind. Kein Wunder. Alufolie. Komprimiert. Geschliffen.

Der ist doch betrunken, sagt Herr T., der extra aus Wusterhausen gekommen ist und deutet mit seinem Stock auf eine von den kleinen Figuren. Ich freu mich immer, wenn ich meinen ältesten Interviewpartner treffe. Er hat einen neuen Stock, sagt er. Seinen schönsten und liebsten hat er bei mir im Dorf verloren, als er mich vor ein paar Monaten besuchen wollte und unverrichteter Dinge wieder heim gefahren war. Ohne seinen Stock. Die Ausstellung gefällt ihm. Da war ein echter Künstler am Werk, sagt er auch noch. Man kann etwas erkennen.



Maske v. Stefan Bassir


 

Donnerstag, 18. Juli 2024

Bis in den frühen Morgen herum gewälzt

Der Hausmann schon um halb 7 auf den Beinen, er muss nach Berlin. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück, das will er morgen auch noch einmal machen. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Hier hat er gestern Abend noch das Klettergerüst für die Bohnen erweitert. Dafür war er vorher im Wald, kam mit zwei dünnen Ästen wieder. Ich hatte ja gedacht, dass er gleich die Alufolie heraussuchen würde, um zusammen mit der Mannheimer Freundin interessante Objekte herzustellen. Sie haben sich den Vorgang von dem Berliner Bildhauer Stefan Bassir, der in der Roddahner Dorfkirche gerade eine Ausstellung vorbereitet, genau erklären lassen.

Heute zeige ich der Freundin die Badestelle in Strodehne. Auf manchmal recht schattigen Wegen fahren wir durch Wiesen und Felder, vorbei an Pferden und Kranichen. Raubvögel in der Luft. Der Fluss erinnert uns an Tage unserer Kindheit. An den Main. An einen kleinen Baggersee in Schildow. Jede hat andere Bilder vor dem inneren Auge, andere Gesichter, andere Situationen, und doch gibt es Ähnlichkeiten. Die Stimmung am Wasser. Die Ruhe. Das Licht. Die gedämpften Stimmen. Und wir gemütlich unter dem großen Baum auf der Decke. Später muss ich ordentlich gegen die Strömung anschwimmen, so habe ich das nicht abgespeichert. Ein Sommertag, wie er schöner nicht sein könnte. In angenehmer Gesellschaft. Keine offenen Wünsche.




 

Mittwoch, 17. Juli 2024

Die Nacktschnecken

treiben direkt vor dem Eingang zur Maisonette ihr Unwesen. Das geht zu weit. Ich war noch nicht bei den Bohnen, um zu schauen, was sie dort wieder angerichtet haben. Der Hausmann hat sie gestern auf dem Spaten zur großen Wiese getragen. Dort dann Schneckenweitwurf. Da habe ich andere Pläne. Sonst müssen gar keine Pläne gemacht werden. Die Mannheimer Freundin muss Gott sei Dank weder beschäftigt noch mit städtischen Attraktionen beeindruckt werden. Wir können ganz entspannt im Garten sitzen. Schauen. Essen. Kaffeetisieren. Gestern Abend sind wir noch eine kleine Runde über den Deich gelaufen. Der Weg über die Wiesen zum Wald ist gesperrt. In der Ferne Kühe. Ach so.



Montag, 15. Juli 2024

Das Endspiel

Wir haben es uns gestern tatsächlich angeschaut. Zumindest von mir kann ich sagen, dass ich anschließend geknickt war. Wir hatten den Engländern die Daumen gedrückt. Natürlich haben die Spanier den Sieg verdient. Keine Frage. Aber…Dabei war ich kurz vor dem Spiel noch froh und heiter. Fast ein wenig aufgekratzt, so wie ich das immer bin, wenn ich inspirierenden Austausch erlebt habe, erlebe. Wenn ich merke, da will eine/r nicht nur klug daher kommen, da zeigt mir jemand sein Inneres. Sorgen. Nöte. Nicht nur die „schöne“ Oberfläche. Obwohl da einiges schön anzusehen wäre. Die gelungenen Kinder. Das frische Enkelkind. Die geplante Reise in die Bretagne. WAS???? Ihr fahrt in die Bretagne? Aber das ist doch….

Die beiden sind seit Mitte der 80er ein Paar. Ein angenehmes noch dazu. Eins, das sich für andere Menschen interessiert. Das zuhört. Das tatsächlich wissen will. Z. B. wie das hier wirklich ist. Im Sommer. Im Winter. Wie das geht mit der Stille und dem fast Ereignislosen. Du schreibst und liest? Schau an. Und das klang bei ihnen gar nicht nach „ist aber schon ein bisschen komisch“. Ich korrigierte. Natürlich träfe ich auch Menschen. Auch gäbe es häufiger mal Kaffee und Kuchen. So wie gestern eben auch. Mit der trefflichen Erdbeertorte hat der Hausmann auch meine Freunde beeindruckt. Er soll das beruflich machen, sagten beide und nahmen genussvoll noch ein Stück. Gerne Sahne. Sie waren nicht die ersten mit dieser Idee. Und werden auch nicht die letzten sein.



Samstag, 13. Juli 2024

Wie man es macht

Für den Nachmittag waren Gewitter angesagt. Die dann aber ausgeblieben sind. Wir hätten uns mit der Heimfahrt also gar nicht beeilen müssen. Hätten überhaupt erst am Nachmittag fahren können. Dann wäre in der Bibliothek mehr Zeit zum Stöbern gewesen, und zur Vernissage in den spielRaum hätten wir auch gehen können. Davon, dass wir ganz in Ruhe ein Eis hätten essen können, will ich mal gar nicht reden. Immer dieses hätte hätte. Dem Hausmann hat unser kleiner Ausflug nach Kyritz trotzdem gefallen. Sagt er. Er hat auch den Stein mit der Inschrift inmitten des Kopfsteinpflasters am Markt entdeckt. „Dieser Stein erinnert an den 14.02.1842. Hier geschah um 10.57 NICHTS.“

In der Bibliothek geht es am Vormittag überaus beschaulich zu. In der Leselounge sitzt es sich angenehm, der Kaffee aus dem Automaten ist akzeptabel. Eine freundliche junge Frau hat mir gezeigt, wie ich mir die Biografie von Brigitte Reimann „Ich bin so gierig nach Leben“ – Carsten Gansel hat sie geschrieben – als eBook auf mein Tablet laden kann. Die Bände 7, 8 und 9 der Krimis um den Kommissar Dupin habe ich allein im Regal gefunden. Sehr beeindruckend die Toiletten im Erdgeschoss. Ich war geblendet von der Helligkeit und Sauberkeit. Da könnte man vom Fußboden….

Donnerstag, 11. Juli 2024

Da half auch der Chagatee nicht

Gestern nach dem Frühstück wurde mir übel. Richtig übel. Es hielt bis zum späteren Nachmittag. Ich habe mich mit einem Krimi von Jean-Luc-Bannalec aus der Kommissar Dupin Reihe unter die Kastanie gelegt und bin in der Bretagne verschwunden. Ich bin beim vierten Fall und mache mir jetzt schon Sorgen, was aus mir wird, wenn ich alle Teile gelesen habe. Ich mag die Bücher lieber als die Filme, auch wenn ich ein Fan von dem Schauspieler bin, der den Kommissar spielt. Mir gefallen die Figuren in den Büchern besser. Und – ein großes Plus, wie ich finde – ich kann in der Landschaft verschwinden, kann mich fortbeamen.

Ich war noch nie in der Bretagne, das ist sehr, sehr bedauerlich, wie mir beim Lesen klar wird. Wie atemberaubend muss es da sein. Und wie speziell der Menschenschlag am Ende der Welt. Finis terrae. Vielleicht hätte mich meine erste kleine Reise 1981 – nachdem mir die Ausreise aus Ost-Berlin bewilligt worden war – nicht nach Paris geführt, wenn ich damals schon etwas von der Bretagne gesehen hätte. Aber hätte hätte. Und natürlich war Paris sehr schön. 1981 bestimmt viel schöner als heute, zumindest kann ich mir das vorstellen. Einmal saß ich abends ein wenig traurig auf den Stufen von Sacré-Cœur. Diese Schönheit um mich herum. Die Luft. Das Lebensgefühl. Glückliche Menschen. Zumindest vermutete ich Glück bei den anderen. Ich war 25, der Osten saß mir noch in den Knochen. Ich wusste damals nicht, dass dies für einige Zeit so bleiben würde, falls es nicht bis heute geblieben ist. Und ich dachte, dass ich noch einmal kommen müsste. Wenn ich richtig verliebt wäre. Oder glücklich. Hat sich bis heute nicht so ergeben….



Dienstag, 9. Juli 2024

Die Dichterinnen haben sich heute

in der Kirche getroffen. Um 18 Uhr sollte es losgehen, ich war viertel vor dort. Als ich ankam, hatten einige schon angefangen, eine kurzfristige Änderung, andere waren noch gar nicht da, es wuselten Erwachsene, Kinder herum, das ist nicht so meins. Mein erster Impuls, ich fahre wieder heim. Zumal ich die Maisonette vom Hausmann nicht hatte abschließen können, das Holz hat sich noch mehr verzogen, vielleicht sollte ich vor Ort sein. Als eine Art Wachhund? Besorgnis trifft auf Bockigkeit. Dann habe ich mich allerdings besonnen (kann ich auch) und bin geblieben, habe wie die anderen etwas zu dem Gemälde bzw. seinem Titel („Fest im Freien“) geschrieben.

Eine besondere Stimmung immer wieder, wenn wir uns hinterher unsere Texte vorlesen. Noch ein bisschen schöner, wenn es wie heute unter der Kastanie im Schatten der Kirche passiert. Schöne Texte. Heiter und nicht so heiter. Zwei besondere Stunden, die ich verpasst hätte, wenn ich meiner Bockigkeit gefolgt wäre.




 

Sonntag, 7. Juli 2024

Dieser blöde Infekt

setzt mir immer noch zu. Da ist der Platz unter der Kastanie genau richtig. Beine hoch legen, Chagatee trinken, Strickjacke aus-, Strickjacke wieder anziehen, ab und zu einen Blick auf den Hausmann werfen, der ein paar Meter von mir entfernt ebenfalls lesend in der Sonne sitzt. Später wird es die Reste vom Pflaumenkuchen geben. Keine gemeinsame Kaffeetafel bitte. Ich möchte weiter lesen. Wird großzügig gestattet. Und schon bin ich wieder bei den drei Frauen, die mein Leseleben entscheidend geprägt haben. Brigitte Reimann. Maxie Wander. Christa Wolf. Dass es dieses Buch über die drei gibt, habe ich in dem Wälzer mit Christa Wolfs Briefen entdeckt. Caroline Würfel. „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“.

Übrigens habe ich vor Kurzem erst gelesen, in den USA und Großbritannien würde man gerade die DDR in Büchern entdecken. Dazu schrieb in der ZEIT Adam Soboczynski: Sobald ein deutsches Werk international Beachtung findet, darf man sich derzeit sicher sein: Es handelt von diesem kleinen, seit Langem zu Tode analysierten und nach dem Epochenbruch 1989 abgewickelten Land. Über diese Aussage kann man selber nachdenken, wenn man kann und möchte, aber das nur am Rande.

Frau Würfel, geb. 1986 in Leipzig, gehört zwar einer anderen Generation an, aber sie hat Maxie Wanders Protokolle „Guten Morgen, du Schöne“ zu ihrem 17ten Geburtstag von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Dieses Buch, dass bei Erscheinen unter den Frauen in der DDR ein kleines Beben ausgelöst hat. So sind wir. So könnten wir sein. So habe ich das jedenfalls damals empfunden. Knapp 20 Jahre später hat Caroline Würfel über die drei Autorinnen ein wunderbares Buch geschrieben. Obwohl ich (fast) alles gelesen habe, was von den dreien erschienen ist, gefällt mir die Verknüpfung, das Verbindende. Christa Wolf als eine Art Mittelpunkt, die mit beiden Frauen befreundet war, beiden auch bis zu ihrem Tod zur Seite stand, auf ihre Weise half, wo es eben ging. Brigitte und Maxie waren keine Freundinnen, das ist ein bisschen seltsam, weil sie sich einige Male begegnet sind, nicht nur im Schriftstellerheim in Petzow. 

Carolin Würfel schreibt u. a. über Brigitte Reimann und Siegfried Pietschmann – die beiden haben sich 1958 in Petzow kennengelernt, ein Jahr später dort auch geheiratet -, dass beide schreiben und andere damit zum Weinen bringen wollten. Den Satz habe ich mir notiert und an ihn  muss ich denken, als ich die Seiten über den Tod von Maxie Wanders Tochter Kitty lese. Danke Frau Würfel. Sie können Menschen auch zum Weinen bringen.



Samstag, 6. Juli 2024

Ein paar Dinge fehlen

Brot. Haferflocken. Hafermilch. Ich habe Quark, aber keine Kartoffeln. Hast du noch welche? Der Hausmann ist gerade in seiner Tür aufgetaucht. Hat er nicht. Vielleicht radle ich nachher nach Neustadt. Aber es geht dir nicht gut. Stimmt. Auch ihm fehlt das eine oder andere, er würde fahren. Doch eigentlich ist das doof. Ich schlage eine Bestandsaufnahme vor. Was hat jeder im Kühlschrank, in den Regalen? Damit kommen wir bis Montag hin, wir werden nicht verhungern. Für den Kuchen, den der Hausmann gleich backen will, ist alles da. Sogar Sahne. Ich wundere mich über mich selbst. Auch wenn mein Hals brennt, die Nase läuft, meine Bronchien fiepen, Appetit ist vorhanden. Nicht ganz so ausgeprägt wie sonst, aber da. Also. Keiner muss fahren. Keiner fährt.

Während ich mich an den Schreibtisch zurückziehe, berserkert der Hausmann mit dem Mulcher durch den Garten. Wie systematisch er das macht. Ich bin immer wieder erstaunt. Kaffeetisiert wird später gemeinsam mit Frau J., der Himmel wird immer dunkler, ein ordentlicher Wind bläst. Dann öffnen sich mal wieder die Schleusentore.

Um 21 Uhr hat sich alles wieder beruhigt, auch kühler ist es geworden. Vom Küchenfenster aus sehe ich ein Stück Himmel. Es leuchtet. Rosa. Orange. Rot. Ich gehe hinaus, will das Licht, die Farben einfangen. Stehe einen Moment im Garten. Wow. Das muss ich fotografieren. Vielleicht finde ich sogar noch einen besseren Platz. Ich laufe in den Wald. Stelle eine halbe Stunde später fest, wie dumm das war. Während ich nach einem guten Standort gesucht habe – nur noch ein kleines Stück, da vorne vielleicht, und da links, das ist ja noch irrer, aber da sind so viele Bäume – änderte sich das Schauspiel. Vom Leuchten zu grau zu grau zu grau. Anstatt mich auf den Moment einzulassen, mit ihm in Resonanz zu gehen, wollte ich ihn festhalten. Vorbei.




 

Freitag, 5. Juli 2024

Wir schauen das Spiel

beim Hausmann auf dem Bett an. Zwar habe ich ein wenig Sorge, ihn anzustecken, aber wenn, dann wäre das doch schon passiert, sagt er großzügig. Ich gebe mir Mühe, dezent zur anderen Seite zu schniefen und zu husten. Zwischen uns sein Tablet. Vor uns der weite Blick über die Wiesen, den Deich. So sitzen wir morgens manchmal beim Kaffee, abends eher nicht. Da macht jeder seins. Gerade als wir uns an den Gedanken gewöhnt haben, dass Deutschland das Spiel verliert, schießt Wirtz in der 89sten Minute das Ausgleichstor. Vor lauter Freude zerquetsche ich dem Hausmann fast den Arm. Jaaaa. Sie schaffen das. Sie reißen das rum. Und dann diese Gemeinheit. Dieses 2:1 in der 119ten Minute. 119!!! Ich habe Tränen in den Augen. Meine Laune unterirdisch.



Donnerstag, 4. Juli 2024


 

Schlecht geschlafen mal wieder

Kein Wunder. Seit vorgestern mache ich schon wieder mit einem Infekt rum. Und dann hat sich anscheinend ein Wirbel verschoben. Mir tat die gesamte rechte Seite weh. Da werde ich später bei dem Kanal von Steffen Barth, dem Reha-Experten, vorbeischauen. Gegen 10 soll es regnen, vielleicht wäre es schlau, jetzt gleich zu Bäcker Hanne zu fahren. Viertel vor 8 sitze ich auf dem Rad. Das ist eine sehr ungewöhnliche Zeit für mich. Ich hatte noch nicht mal meinen zweiten Kaffee. Links auf der Wiese ein Kranichpaar. Ich steige ab und beobachte sie eine Weile. Hoffentlich bin ich ihnen nicht zu nahe gekommen. Aber sie bleiben, lassen mich schauen.

Ein paar Meter weiter sitzt ein Hase mitten auf dem Weg. Hallo? Willst du vielleicht mal ausweichen? Er läuft vor mir her, macht erst nach fünfzig Metern die Biege.

Ich habe dem Hausmann gestern von den kleinen Törtchen erzählt, die ich ausprobieren will. Mir ist der Name nicht eingefallen. Biskuit und Creme. Ungefähr so hoch. Rund. Mit einer Glasur, oben drauf eine Nuss. Kennst du nicht? Nusstörtchen steht auf dem Schild, da hätte ich drauf kommen können.

Vor mir zwei ältere Frauen, die ihre großen Taschen mit Kuchen füllen. Bei den günstigen Preisen – eine Platte kostet 3 Euro, ergibt 3 Stücke – kann man sich vorstellen, was da bei einem Einkauf von 30 Euro zusammenkommt. Direkt vor meiner Nase kaufen sie die letzten Platten Streusel, Apfel, Bienenstich, und wenn mehr da wäre, würden sie das sehr gerne auch noch einpacken. Bevor ich fragen kann, ob sie eine Kaffeegesellschaft veranstalten, lösen sie das Rätsel. Sie kommen einmal im Monat, frieren den Kuchen ein. Beim Auftauen schmeckt er wie frisch gebacken. Der ist frisch gebacken, sagt die Bäckersfrau. Und dass sie beim nächsten Mal einfach vorher anrufen und eine Bestellung aufgeben könnten. Dann bekommen sie alles, was sie wollen. Mir bleiben tatsächlich nur die Nusstörtchen und kleine Quarktaschen. Und dann bitte noch 2 Knüppel. Die nehme ich dem Hausmann mit. Kannte der vorher gar nicht, schmecken ihm aber. Knüppel sind eine alte Berliner – wahrscheinlich auch Brandenburger – Spezialität. Oder überhaupt typisch für den Osten?



Mittwoch, 3. Juli 2024

Die letzte Seite

Wie schade. Ich könnte immer weiter lesen. Und dann dieses Ende. „Ich bin unterwegs, mein Gepäck ist leicht.“ So schrieb es in den Neunzigern der damals 80jährige Fred Wander (1917 – 2006), dessen Erinnerungen „Das gute Leben“ mich aufgewühlt, bestürzt, am Ende aber auch beglückt haben. Aufgewühlt und nachträglich bestürzt haben mich die Berichte aus dem besetzten Frankreich, wohin der österreichische Jude Fritz Rosenblatt 1938 geflohen war, da die Stimmung in Wien schon lange vor Hitlers Einmarsch für Juden unerträglich war. Ich habe vergessen, dass auch in Österreich ein faschistisches Regime herrschte, dass zwischen 1933 und 1938 alle demokratischen Parteien verboten waren, dass Kommunisten verfolgt wurden. Was haben die Menschen gejubelt, als Hitler kam. Endlich.

Aufgewühlt haben mich Fred Wanders Erinnerungen an die verschiedenen Internierungslager (waren es 15, oder 20? er wusste es nicht mehr genau). Die Auslieferung nach langer Odyssee an die Deutschen 1942. Die Deportation nach Auschwitz. Allein die Fahrt in den Waggons, ich habe es fast nicht ausgehalten zu lesen. Und die Menschen an den Bahngleisen, in den Dörfern und Gemeinden, sie haben das alles gesehen. Alle bekommen alles mit. Aber viele Menschen ziehen es vor, blind zu sein. Blind für die Leiden der anderen. In Auschwitz hatte Fred Wander „Glück“. Er war noch einigermaßen kräftig, wurde nicht sofort vergast wie später seine Eltern und seine Schwester, er wurde als Arbeitssklave ausgesucht. Vernichtung durch Arbeit lautete die Devise. Befreit in Buchenwald. Bis ins hohe Alter träumte er von den Lagern, wusste oft nicht, wo er war, wenn er nachts aufwachte.

1955 – inzwischen war er Kommunist, hatte in Wien als Journalist und Fotograf gearbeitet – ist er dann in die DDR gegangen, weil er dort als einziger Österreicher einen Platz am Literaturinstitut von J. R. Becher hatte. Seine zweite Frau Maxie ging mit ihm mit, und obwohl das alles nur eine Übergangslösung sein sollte, sind sie geblieben. Dabei waren sie schnell desillusioniert, vieles gefiel ihnen auch in der DDR nicht. Vielleicht sind sie auch wegen der Menschen dort geblieben, man könnte das nach der Lektüre denken. Aber sie hatten ja auch ihre österreichischen Pässe und waren privilegiert. Sie durften reisen. Durften in die Provence reisen und darüber ein Buch machen. Ich habe es noch immer in meiner Bibliothek. Natürlich habe ich mich beim Erscheinen 1978 – Maxie Wander war da schon seit einem Jahr tot – auch geärgert. Was denken sich die Bonzen? Sie lassen mich dieses Buch lesen, lassen mich in die Geschichten, in die Gesichter der Menschen eintauchen, obwohl ich das selbst nie sehen werde?

Maxie Wander, deren Buch „Guten Morgen du Schöne“ eine Art Bibel für mich war, deren Tagebücher und Briefe ich später verschlungen habe, sah ich jetzt beim Lesen mit den Augen ihres Mannes. Liebevolle Augen, auch wenn er seine Liebe oft nicht so ausdrücken konnte. Ihre unermüdliche Kreativität. Ihre Begabung, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Ihre Begeisterungsfähigkeit. Er schreibt: „…Lesen und Schreiben war für sie eine Erweiterung ihres Daseins.“ Und wenn das Paar abends in Kleinmachnow spazieren ging, überlegten sie oft, was sie am meisten an anderen Menschen interessiert. „Uns interessiert an den Menschen, wenn sie sich brennend für andere Menschen interessieren.“ D’accord.



Montag, 1. Juli 2024

Ross, Reiter, kein Esel

Das Geklapper der Hufe hat mich aufschauen lassen. Von meinem Schreibplatz am Küchentisch habe ich links den Weg im Blick, so kann ich schnell die Treppe hinunter, wenn ich das Postauto sehe. Heute sollen meine Notizbücher kommen. In Kyritz habe ich zwar Großraumminen gefunden, aber keine gescheiten Notizbücher. Die Luft ist frisch. Wassertröge und Gießkannen sind gut gefüllt. Da ist ganz schon was heruntergekommen. Die Bohnen klettern emsig in die Höhe. Eine Tomatenpflanze möchte sich legen, das muss verhindert werden. Für ein paar Minuten hat sich die Sonne blicken lassen, jetzt sieht es schon wieder nach Regen aus. Andare al lavoro.

Bevor ich mich hier am Küchentisch niedergelassen habe, musste ich mir noch schnell einen kleinen Film von Eleonora und Christian ansehen, einem italienischem Paar, das auf einem kleinen Berg in der Nähe von Turin ein autarkes Leben versucht und via Youtube andere daran teilhaben lässt. Ich bin fasziniert von Menschen, die so etwas probieren oder seit Jahren bereits leben. Ich folge einer deutschen Frau in Schweden, einem britischen Paar in Portugal, diesen beiden in Italien, schaue auch mal hier- und dorthin. Einzelkämpfer, die eine Vision haben, die abseits der gängigen Pfade leben, das finde ich spannend. Zumindest aus der Ferne. Ich selber möchte kein Land roden, kein Haus instand setzen oder neu bauen. Vielleicht würde ich einen Baum pflanzen.



Fast geschafft

Es ist mir schon beim Frühstück aufgefallen. Die Weihnachtsmusik geht mir auf den Senkel. Vielleicht wäre es anders, gäbe es wenigstens eine...