Dienstag, 26. Januar 2021

Meine junge Mutter


 

Je länger ich beim Stiefvater bin,

um so mehr frage ich mich, wie meine Mutter es mit ihm ausgehalten hat. Vielleicht hat sie es ja nur mit Alkohol geschafft. Ich denke immer noch an die leere Flasche, die ich in ihrem Schrank gefunden habe. Der Stiefvater kommt mir vor, als wäre er längst tot bzw. eine leere Hülle. Das ist noch einmal eine andere Art des Vegetierens als die, die ich kenne. Er erinnert sich an viele Details. Wann sein Vater wo mit wem wie lange gearbeitet hatte. Seine eigenen verschieden Baustellen. Der Pfarrerin hat er erzählt, dass er oft an ihren Vater denkt. Die Pfarrerin war verblüfft. "Aber der ist seit zehn Jahren tot." Der Stiefvater hatte nur genickt. "Das macht nichts, ich denke oft an ihn." 

An mich, die ich hier bei ihm bin, denkt er nicht. Mich behandelt er wie ein Kind. Sagt mir im Befehlston, ich solle doch gefälligst in meinem Zimmer regelmäßig lüften. Dabei rümpft er die Nase. Ich habe gerade eine Stunde lang das Fenster geöffnet. "Na dann ist ja gut." Als ich auf der Hälfte der Treppe bin, entdeckt er ein paar Tropfen oben auf dem Teppich. Er ist erbost. "Was ist denn das?" Ich deutete auf das Wasserglas, das ich bei mir trage. Ich habe wohl etwas davon verloren. "Du bist schon wie deine Mutter." Gleich kippe ich ihm das Wasser ins Gesicht. "Und du bist ein böser alter Mann." 

Goloka, mit dem ich alle paar Tage telefoniere, spricht von Willkür, als ich ihm erzähle, wie der Stiefvater mich behandelt. Dieser Willkür war ich schon als Kind ausgesetzt, ich wusste damals nicht, wie ich ihr begegnen sollte. Sie tun etwas, und hinterher ist da nichts gewesen. Wir? Wir haben nichts gemacht. Heute bin ich erwachsen. Ich habe nichts zu verlieren. Der Stiefvater ist nicht mein Vater, und wenn er es wäre, würde das nichts ändern. Ich bin hier fertig. Weder erfahre ich etwas Neues über meine Mutter, im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass die Dinge, die meine frühe Kindheit, den Aufenthalt im Heim, den Übergang zu den Großeltern betreffen, im Dunkeln bleiben sollen. Anstelle Antworten auf meine Fragen zu bekommen, soll ich das Leben leben, das der Stiefvater mit meiner Mutter geführt hat. Und ganz so, wie ich es gewohnt bin, schreibe ich darüber. Bin ich diesem Mann etwas schuldig? Nein. Er wäre höchstens mir etwas schuldig. Eine Entschuldigung. Eine späte Einsicht, dass er, dass sie falsch gehandelt haben. Er erzählt mir, dass mein Sohn zu ihm ziehen würde. Er hat gerade Stress mit seiner Partnerin, deswegen kann er sich wohl vorstellen, mit seinem Großvater zu leben. Aber der Stiefvater möchte nicht, dass mein Sohn zu ihm zieht. Er spricht es nicht aus, aber mir ist klar, dass ihm lieb wäre, wenn dieses Angebot von mir kommen würde. 

Meinen einzigen noch lebenden Großcousin, auch er fast neunzig, werde ich nun nicht bei der Beerdigung sehen. Schuld daran ist Corona und die damit einhergehenden Vorschriften. Vielleicht kann ich mit ihm telefonieren, kann am Telefon ein paar Dinge erfragen. Er kannte meine Mutter gut, sie haben sich häufig gesehen, als sie jung waren. Auch später haben sie den Kontakt aufrecht erhalten. Andererseits - was muss ich denn noch wissen? Ob meine Mutter mich zur Adoption freigeben wollte? Wie lange genau ich im Heim bleiben musste? Wie meine Mutter als junge Frau war? Wovon sie geträumt hat? Würde das etwas ändern? Ich habe der Pfarrerin erzählt, dass meine Mutter studieren wollte. Sprachen sind ihr leicht gefallen, sie wäre gern Dolmetscherin geworden. Es kam sogar eine Lehrerin zu meinen Großeltern, die meinen Großvater überreden wollte, meine Mutter länger zur Schule gehen zu lassen. Aber diesen Mann konnte man nicht überreden. Wozu sollte das gut sein? Seine Tochter würde ja doch heiraten, wozu studieren? Er war altmodisch. Und meine Mutter hatte sich gefügt. Angeblich hat sie zwei Jahre lang schwarz im Westen gearbeitet. So hat es der Stiefvater der Pfarrerin erzählt. Davon habe ich noch nie gehört. Zu diesem Thema könnte ich den Großcousin befragen. Denn diese Schwarzarbeit fällt mit meiner Geburt zusammen. War ich deswegen im Heim? Damit meine Mutter im Westen arbeiten konnte? Ich vermute, dass der Stiefvater auch nicht alles weiß. Oder dass er etwas weiß, aber dass er Dinge vertuscht, die ihm unangenehm sind. Er ist ja sehr moralisch. Obwohl moralisch das falsche Wort ist. Es ist ihm wichtig, was andere denken. Man hält den Garten in Ordnung. Das Haus. Man wischt Staub. Räumt nach dem Essen die Küche auf. Zieht sich die Schuhe an der Treppe aus, wartet mit dem Kuchenessen bis alle anfangen, man setzt sich auf den zugewiesenen Stuhl, man gehorcht. Man macht das, weil man es eben so macht. Eine Autorität - der Ältere, er in diesem Fall - legt fest, was gut und richtig ist. Dieser Entscheidung haben sich Kinder zu fügen. Auch 65jährige Kinder. Weil die es eben nicht besser wissen können. Ich bin ganz schön geladen, wie ich gerade merke. Plötzlich bin ich wieder in dem Umfeld gelandet, das ich schon als Kind gehasst habe. Vor dem ich mich vielleicht sogar gefürchtet habe. Ich wusste, man spricht mir meine eigenen Gedanken und Regungen ab. Aber das ist Schnee von gestern. Bzw. wäre Schnee von gestern, wäre nicht vor ein paar Wochen meine Mutter gestorben. Jetzt erlebe ich sozusagen noch einmal im Schnelldurchlauf die Schrecken meiner Kindheit. Sie sehen, sie hören mich nicht. Als ich die gedruckten Traueranzeigen von meinem Konto bezahlen soll, weil der Stiefvater selber nichts von online-Banking hält, muss ich ihm gestehen, dass kein Geld auf meinem Konto ist. Er ist mal wieder kurz vor dem Hyperventilieren. Wie kann es sein, dass ich kein Geld habe? Er ist empört und verärgert. Weil ich vielleicht mit sehr wenig Geld lebe? Das interessiert ihn nicht. Ihn interessiert diese Überweisung, die ich nun nicht für ihn tätigen kann. Und obwohl die Tür zu meinem Gefängnis offen steht, bleibe ich.

Mittwoch, 6. Januar 2021

Vor dem Haus rumpelt eine Tonne über das Pflaster

Morgen wird Papier abgeholt. Wir legen einzelnen Abfall vor die Kellertreppe, dann kann man ihn mit nach unten nehmen, wenn man in den Keller geht. Es wird allerdings nicht gern gesehen, dass ich alleine dorthin gehe. Wer weiß, welche Geheimnisse ich entdecken könnte. Sie werden das Geld vom Hausverkauf wohl nicht im Keller lagern. Allerdings vermeide ich es schon von mir aus, in den Untergrund zu gehen, gerade wenn ich alleine im Haus bin. Die Alarmanlage könnte losgehen. Das ist hier jederzeit möglich, wie ich schon feststellen musste. 

Der Stiefvater ist ganz in grün zu seiner Verabredung gefahren. Damit jeder sieht, dass er ein Jäger ist. Ein Jäger im Ruhestand, denn ich glaube nicht, dass er noch einmal auf die Jagd gehen wird. Das ist anstrengend. Gar nicht so sehr das Schießen oder das Spähen auf einem Hochsitz, ich glaube sogar, dass er das sehr gerne machen würde. Aber damit allein ist es nicht getan. Das erlegte Wild muss aufgebrochen, abtransportiert werden. Das ist körperlich anstrengend. Ich weiß sowieso nicht, warum er unbedingt Jäger werden musste. Weil sein großes Vorbild - ein Freund seines Vaters, später sein Freund, auch sein Chef, ein unangenehmer aufgeblasener Angeber - Jäger war? Vielleicht wollte er ihm imponieren. Oder dieser Gönner hatte ihm eingeredet, dass ein echter Mann auf Jagd gehen muss. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. So wie man morgens die Jalousien hochziehen muss, damit man von den Nachbarn nicht für einen Langschläfer gehalten wird. Was tun wir nicht alles für den Blick von Außen. Wir wollen klug sein. Fleißig. Belastbar. Einsatzfähig. Widerstandsfähig. Resilient. Intellektuell. Liebevoll. Hilfsbereit. Ein guter Freund. Eine gute Tochter. Eine gute Mutter. Weise. Humorvoll. Elegant. Großzügig. Empathisch. Mitfühlend. Heiter. Allen Stürmen trotzend. Nicht nachtragend. Gerecht. Weich. Hart. Analytisch. Bodenständig. Modern. Konservativ. Umweltbewusst. Verantwortungsvoll. Richtig denkend und fühlend. Angepasst. Nicht zu angepasst. Unangepasst. Revolutionär. Das Alte bewahrend. Sorgend. 

Gestern sah ich im RBB einen Bericht über eine Pilotin, die in einem Altenheim gearbeitet hat. Sie hatte einen Bericht über dieses Heim gesehen, darüber, dass dort das Personal in Quarantäne war, dass die Insassen nicht mehr richtig versorgt werden konnten. Und da sie wegen Corona gerade Kurzarbeit macht, hat sie sich dort gemeldet und ist für eine Weile in ein kleines Zimmer in diesem Heim gezogen. Ihre Schichten waren oft lang, das Personal war immer noch sehr reduziert, aber die Arbeit hat ihr Kraft gegeben. Sie wird das wieder machen. 

Eine schöne Aufgabe, denke ich so bei mir, sinnvoll vor allem. Sie würde mich von meinem eigenen kleinen Leben ablenken, das mir aber trotzdem oft so wichtig erscheint. Dabei ist es dem Universum egal, ob da ein Mensch mehr oder weniger unterwegs ist. Interessant ist unsere Ankunft auf Erden doch lediglich im Zusammenspiel mit all den anderen Seelen. So wie der Wassertropfen, der allein bedeutungslos ist, mit all den anderen Tropfen zusammen aber ein brausendes Meer ergibt. Meine Großeltern wussten von diesen Dingen. Sie wollten nicht mehr darstellen, als das, was sie waren. Menschen, die ihren Weg gingen. Einfache Menschen, könnte man sagen. Aber in ihrem Wesen so vielschichtig wie Menschen eben sind. 

Mein Großvater, Jahrgang 1883, hatte im ersten Weltkrieg gedient. Danach war er sicher, dass es nie wieder Krieg geben sollte. Er hatte als Drucker bei Ullstein gearbeitet und ein politisches Bewusstsein entwickelt. Ungerechtigkeiten erkannte er, wenn er sie sah. Er war bestimmt kein Kommunist, aber Ernst Thälmann hatte ihn beeindruckt. Der hatte schon früh gewarnt. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg. Davon war auch mein Großvater überzeugt. Zusammen mit meiner Großmutter hatte er Juden versteckt, die sich zur Deportation melden sollten. Ich habe 1998 in Israel den beiden zu Ehren einen Baum gepflanzt. Später verhinderte mein Großvater für ein paar Jahre, dass ich Pionier wurde. Sein Argument war, dass er das alles schon einmal gesehen hatte bei den Pimpfen und beim Jungvolk. Seine erste Ehefrau hatte er bei einem Seitensprung erwischt. Er warf sie aus dem Haus - so etwas war Anfang der 20er-Jahre normal - und kümmerte sich von da ab allein um die beiden Kinder, die ihre Mutter nicht mehr sehen durften, da blieb er hart. Dann lernte er meine Großmutter kennen, die auch schon eine Ehe hinter sich hatte. Ich weiß nicht, ob die Tochter aus dieser Ehe bei ihr lebte, glaube das aber nicht. Meine Großmutter, Jahrgang 1893, arbeitete als Beiköchin im Hotel Kempinski. In der Fischküche. Wo hätte sie die Tochter in Berlin unterbringen sollen? Die gemeinsamen Kinder kamen zügig, Lotti wurde 1922 geboren, Hertie 1924, meine Mutter, die Nachzüglerin, kam 1934. Eine späte Geburt. Weil mein Großvater nichts anderes konnte als Kinder machen, wie meine Großmutter nicht müde wurde zu betonen. Wo mein Großvater hart und kalt war, schien meine Großmutter Wärme auszustrahlen. Sie war der Ansicht, dass ihre Stiefkinder sehr wohl die Mutter sehen sollten. Ohne das Wissen meines Großvaters erlaubte sie es ihnen. Der Sohn Harry wollte das nie. Er hatte sich mit meinem Großvater verbündet. Er kam auch sonst nach seinem Vater. Er war ähnlich schweigsam, ähnlich rigoros. Und ebenfalls beiden gemeinsam war, dass sie Mädchen mehr mochten als Jungen. Was meinen Großvater betrifft eine gefährliche Angelegenheit, aber für den Onkel war ich Gott sei Dank nur die geliebte Nichte, deren Entwicklung fotografisch dokumentiert wurde, der in den Jahren immer wieder Geld zugeschoben wurde, da ich von meiner Mutter, dem Stiefvater keines bekam. Er interessierte sich für mich, redete mit mir. Seinen eigenen Jungen gegenüber war der Onkel dagegen hart, ein Despot. Er sperrte sie tagelang im dunklen Keller ein, verprügelte sie. Darüber munkelte man in der Familie hinter vorgehaltener Hand. Ob man auch über den Großvater munkelte? Die Männer mit der dunklen Seite.

Montag, 4. Januar 2021

Mutterseelenallein. Was heißt das?

Dass man keine Mutter und keine Seele hat? Oder dass man als Seele allein ist? Ich habe mich schon immer allein gefühlt, aber jetzt fühle ich mich auf andere Weise allein. Für zwei Tage bin ich zurück in der WG. Ich habe die Schwestern getroffen und mich ein wenig trösten lassen. Ich habe mit dem Taxifahrer, dem Hausmann telefoniert und mich hinterher leer gefühlt. Ich habe in den Gesprächen nicht das gefunden, worauf ich gehofft hatte. 

Vor Jahren hatte ein Mann zu mir gesagt, er hätte das Gefühl, dass ich etwas suche. Er wüsste nicht, was es wäre, er wüsste nur, dass er es mir nicht geben könne. Dass es mir vielleicht niemand geben könne. Ich glaube, das sind die einzigen jemals an mich gerichteten Sätze, die ich mir gemerkt habe. Sie hatten mich damals, in den späten 80ern getroffen, sie berühren mich heute noch. Ein anderer kann dir nicht geben, was du brauchst. Trost. Nähe. Ich suchte diese Nähe bei einem Partner, damit ich den Schmerz nicht spüren musste. Oder vielleicht so: Ich spürte ihn, aber sie sollten ihn ein Stück mit mir tragen. Aber das konnten oder können sie nicht. Vielleicht ist es sogar eine Illusion, dass ein anderer Mensch einem echten Trost spenden bzw. die eigene Verzweiflung spüren kann. Jetzt also ist der Moment gekommen, ich bin tatsächlich allein. Früher war da immer noch eine winzige Hoffnung. Darauf, dass ich vielleicht noch einmal einen Menschen finde, den ich liebe, der mich liebt. Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich all die Jahre auch darauf gehofft, von meiner Mutter gesehen und geliebt zu werden. So, wie ich bin. Und das bedeutet nicht, dass sie mir gegenüber diese Floskel von "mein Kind, natürlich liebe ich dich" benutzt. Sondern dass ich das Gefühl habe, sie nimmt mich so an, wie ich bin. Mit meinen Unzulänglichkeiten, meinen Fehlern und meinen Stärken. Und sieht nicht länger nur den Menschen in mir, der ihr den geliebten Enkel, den Erben geschenkt hat. Darauf kann ich nun nicht mehr hoffen. Ich bin allein. Aber auch ungebunden. Ich kann tun und lassen, was ich will. 

Ich weiß nicht, was ich tun will. Schreiben hat an Bedeutung verloren. Im Gegensatz zu anderen Schreibern möchte ich nicht mitreden, mitmischen unter all den Stimmen, die man in den Medien hören oder lesen kann. Nicht, weil ich glaube, ich hätte nichts zu sagen. Das nicht. Aber mein Sagen ist höchstens das Teilen einer persönlichen Erfahrung. Nur darüber kann ich berichten. Ich habe keine Theorien im Kopf, keine Ideen, wie man die Welt verändern könnte. Die Welt könnte man verändern, wenn wir uns auf das besinnen würden, was wichtig ist. Wenn wir zu uns selbst stehen und nicht versuchen würden, eine andere, ein anderer zu sein. Darüber könnte ich allerdings einiges berichten. Denn ich wollte viele Jahre lang eine andere sein. Ich habe versucht, irgendwie normal zu sein. Dazu zu gehören. Zu den über Literatur redenden, den Kulturenthusiasten, den linken Intellektuellen. Die so schöne Gedanken haben, die noch dazu so druckreif aus den Mündern kommen. 

Ein Freund hat einmal gesagt, er wäre gern der Sohn von Christa Wolf gewesen. Ich weiß genau, was er damit gemeint hatte. Wir haben uns gewünscht, zu den Künstlern zu gehören. Deswegen wären wir gern in einer Umwelt aufgewachsen, in denen Kunst eine Rolle spielt. In der über Politik, Verantwortung, Kultur, den eigenen Ausdruck geredet wird. In einem Umfeld, in dem die Werke befreundeter Künstler die Wände schmücken, und das nicht nur, damit man von anderen als Kunstkenner wahrgenommen werden möchte, sondern weil es ein Bedürfnis ist, sich mit diesen Dingen zu umgeben, weil daraus eine Befriedigung gezogen wird. Auch wenn kein anderer Mensch das jemals sehen würde. Ein Umfeld, in dem wir gefördert, erkannt werden. Stattdessen mussten wir ganz alleine unsere Bestimmung finden. Als Schauspieler oder Mann vom Theater, als Schreiber. Aber haben wir tatsächlich etwas Neues zu sagen? Wiederholen wir nicht nur - mit anderen Worten - immer wieder das, was schon unzählige Male vorher gedacht und gesagt wurde? Ich glaube schon. Weil alles, was wirklich wichtig ist, schon vor 2000 Jahren gelehrt wurde. Ich denke an die frühen Philosophen, die gleichzeitig auch Psychologen waren. Sie wussten alles, was man wissen muss. Erkenne, wer du bist. Erkenne, was du ändern kannst, was innerhalb deiner Möglichkeiten liegt, das ändere dann, und das, was du nicht ändern kannst, worauf du keinen Einfluss hast, das lass links oder rechts liegen. Eins liegt in unserer Macht. Ein anderes nicht. Sagte Epiktet. In den antiken Tragödien gab es schon alle Formen menschlichen Dramas. Natürlich verändern die Zeiten das Equipment, aber das menschliche Verhalten bleibt gleich. Es wird gelogen, betrogen, geliebt, verlassen, Kriege werden angezettelt, es gibt die, die immer alles besser wissen, obwohl sie wenig oder gar nichts wissen, es gibt die, die immer eine Meinung haben, die klug sein wollen, Ratgeber, und dann sind da die, die einfach ein schlichtes Leben leben, unbeachtet von der Masse, obwohl sie vielleicht etwas zu sagen hätten, würde man sie fragen.

Am Schlachtensee


 

Samstag, 2. Januar 2021

Am Vormittag fährt der Stiefvater zum Bäcker

Er möchte selbst den Kuchen für heute Nachmittag, das Brot für die nächsten Tage kaufen. Ich weiß nicht, ob er mir einen solchen Einkauf nicht zutraut oder ob er nur mal wieder sein Auto benutzen möchte, vielleicht will er auch einfach einmal vor die Tür. Heute Nachmittag wird die Frau Pfarrerin erwartet, die bei Mutters Beerdigung eine kurze Rede halten soll. Während der Stiefvater unterwegs ist, schaue ich mir noch einmal ein paar Sachen in Mutters Kleiderschrank an. Mir fehlen Langarmshirts, blau oder schwarz wäre nicht schlecht. Ich habe zwar schon einmal den Inhalt der Fächer überflogen und nichts gefunden, jetzt gehe ich etwas systematischer vor. 

Ganz unten im Schrank mit den Hosen finde ich eine leere Piccolo-Flasche. Hat sie die versteckt? Durfte sie nichts trinken? Sollte sie nichts trinken? War sie Alkoholikerin? Falls ja, würde es mich nicht wundern, davon nichts gemerkt zu haben. Hier wird eine feine Fassade aufrecht erhalten. Alles ist picobello sauber, aufgeräumt, es gibt keine Leichen im Keller. Wenn man von mir absieht. Ich bin die Leiche, die die beiden in ihrem Keller hatten. Die Tochter, die bei den Großeltern gut aufgehoben war, die man gelegentlich besuchte, ermahnte, damit ein ordentlicher Mensch aus ihr würde, die man ins Ferienlager schickte, aber nie mit auf die schönen Reisen nahm, die man sich regelmäßig gönnte. Sogar jetzt prahlt der Stiefvater mit dem vielen Geld, das er schon zu DDR-Zeiten verdiente und erzählt mir stolz, was er damit alles angestellt hatte. Es fällt ihm nicht auf, dass ich in diesen Aufzählungen nicht vorkomme. Für mich haben sie kein Geld ausgegeben. Ich hatte es doch so gut in der Laube. Wozu brauchte ich Geld? Auch die Großeltern brauchten es nicht, meine Mutter hat ihnen kein Geld dafür gegeben, dass sie mich aufgezogen haben. Wenn sie es denn unbedingt wollen, wird sie sich gedacht haben, dann müssen sie es von mir fordern. Aber das werden sie nicht tun, schließlich haben sie das Kind. Ach, ich bin sarkastisch. Oder böse, wie man will. Man könnte auch schlicht von "ehrlich" sprechen. 

Also diese leere Flasche. Ich gebe zu, dass ich manchmal dachte, dass meine Mutter doch einiges trinken würde. Aber das taten wir ja alle, wenn wir zusammen waren. Wenn ich zu Besuch kam, wurde rasch eine Flasche Sekt geöffnet. Für mich waren diese Treffen, die manchmal nichtssagend, oft aber auch verletzend waren, mit ein bisschen Alkohol im Blut leichter zu überstehen. Und sie, meine Mutter, trank fleißig mit. Es schmeckte ihr. Sekt zur Begrüßung, Rotwein zum Essen. Hatte der Taxifahrer nicht einmal gesagt, in dieser Familie würden sie alle ordentlich picheln? Ich hatte das nicht auf meine Mutter bezogen. Allerdings wurde sie immer etwas zutraulicher - so wurde das manchmal umschrieben - wenn sie etwas getrunken hatte. So wie damals auf der Beerdigung von meinem Vater. Wir saßen in einer Kneipe, in der er früher oft verkehrt hatte, und kurz nachdem meine Mutter einen freien Barhocker geentert hatte, hörte ich, wie sie zu dem jungen Freund meines Vater "Der hat doch immer gesoffen." sagte. Er hatte immer. Sie natürlich nicht. Ich stelle das erst heute infrage. Denn mir fallen etliche Momente ein, in denen sie nicht nüchtern war, in denen auch anderen aufgefallen war, dass sie ein bisschen viel getrunken oder "einen im Tee" hatte, wie man das früher auch nannte. "Einen im Tee" hatte sie auch, als sie mich im Restaurant fragte, was ich denn von "so einem" wolle. Wir feierten den Geburtstag meines Sohnes, ich war mit dem Taxifahrer gekommen. Der würde doch gar nicht zu mir passen, hatte meine Mutter gesagt, sie verstünde das nicht. Der Mann, über den sie so ungeniert redete, hatte gerade mal zwei Meter von ihr entfernt gesessen. Obwohl ich zu ähnlichen Überlegungen gekommen war, hätte sie ihre an diesem Abend für sich behalten sollen. 

Die Pfarrerin ist eine patente Person, die angemessen und nicht rührselig über meine Mutter sprechen wird. Davon gehe ich aus, nachdem wir uns einander vorgestellt haben. Der Stiefvater hat im Wohnzimmer den Kaffeetisch gedeckt, ich soll den Platz ihm gegenüber einnehmen, die Pfarrerin soll neben mir sitzen. Ich möchte mich allerdings umsetzen, ich möchte sowohl den Stiefvater als auch der Pfarrerin in die Augen schauen können ohne mich umzudrehen. Um Gottes Willen. Ich solle mich sofort dorthin setzen, wo er das festgelegt hat. "Aber ich möchte lieber..." "SETZ DICH!" Seine Stimme überschlägt sich fast. Und ich setze mich. Mit aufsteigenden Tränen, was mich noch zusätzlich ärgert. Nicht nur, dass ich ihm gehorche, mir kommen auch noch die Tränen. Ich schenke den Kaffee ein, und während die Pfarrerin noch damit beschäftigt ist, einen amtlichen Bogen auszufüllen, fange ich an, meinen Kuchen zu essen. "Was machst du da? Lass das gefälligst sein." "Ich kann doch meinen Kuchen essen, ich muss hier doch keine Regeln einhalten." "So etwas macht man nicht. Das ist falsch." Am liebsten würde ich aufstehen und gehen. Aber ich bleibe. Wütend, hilflos. So habe ich mich als Kind häufig gefühlt. Aber du bist jetzt erwachsen, sagt eine Stimme in mir. Das stimmt. Also beruhige dich, du bist ja nicht ohne Grund hier, du willst mit der Pfarrerin reden, du erinnerst dich? Und das mache ich dann. Ich erzähle von der Gabe meiner Mutter, mit Menschen in Kontakt zu kommen, Freundschaften zu schließen und am Leben zu erhalten. Und ich erzähle von der Laube, davon, dass man sie 1945 oben auf das Bett gelegt hatte, damit die Russen die Älteste der Schwestern, die ganz unten lag, nicht erwischten. Und dass die Russen gut zu ihr waren. So hatte sie es mir erzählt. 

Als der Stiefvater in der Küche ist, rede ich mit der Pfarrerin über das, was mir am Herzen liegt. Ich glaube, sie hat inzwischen einiges verstanden von meiner Rolle in dieser Familie. Also. Ich möchte in der Rede nichts von "geliebter Tochter" oder ähnliches hören. Geliebte Großmutter dagegen dürfte sehr wohl erwähnt werden, weil meine Mutter eine gute Großmutter war. Was denn "gute Großmutter" hieße, möchte sie wissen. Das heißt, dass sie meinen Sohn liebte, so sehr sogar, dass sie mich ein paar Monate nach seiner Geburt drängte, ihn bei ihr aufwachsen zu lassen. Was ich damals nicht wollte, aber wer weiß schon, ob diese Entscheidung richtig war. Mein Sohn war von Anfang an der ersehnte Erbe, vielleicht wäre er dort glücklich gewesen. Das alles erzähle ich der Pfarrerin nicht, nur dass meine Mutter meinen Sohn mit Freuden betreute. Auch als ich im Westen war und selber nicht nach Ost-Berlin fahren durfte, fanden wir oft eine Möglichkeit, ihn durch die Grenze zu bringen. Sie nahmen ihn mit in den Urlaub, und meine Mutter kümmerte sich auch um ihn, als er abzurutschen drohte. Ich weiß gar nicht, ob der Stiefvater weiß, wie oft sie nach Neukölln gefahren ist und meinem Sohn den Kühlschrank gefüllt hat. Geld bekam er keines von ihr, da er es nur für Alkohol ausgeben würde. Vorbehaltlos geliebt kann man vielleicht nicht sagen, aber es war auch schwierig mit ihm in seiner Drogenzeit. Dabei wusste sie nur die Hälfte von allem. Aber gut. Ich habe dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Und jetzt werde ich auch bald das Mutter-Kapitel schließen.

Kalt und sonnig

Wie anders die Welt gleich aussieht. Wie anders ich mich fühle. Wie beschwingt ich gestern erneut zum Butterbaum gelaufen bin. Wie anders da...