Er möchte selbst den Kuchen für heute Nachmittag, das Brot für die nächsten Tage kaufen. Ich weiß nicht, ob er mir einen solchen Einkauf nicht zutraut oder ob er nur mal wieder sein Auto benutzen möchte, vielleicht will er auch einfach einmal vor die Tür. Heute Nachmittag wird die Frau Pfarrerin erwartet, die bei Mutters Beerdigung eine kurze Rede halten soll. Während der Stiefvater unterwegs ist, schaue ich mir noch einmal ein paar Sachen in Mutters Kleiderschrank an. Mir fehlen Langarmshirts, blau oder schwarz wäre nicht schlecht. Ich habe zwar schon einmal den Inhalt der Fächer überflogen und nichts gefunden, jetzt gehe ich etwas systematischer vor.
Ganz unten im Schrank mit den Hosen finde ich eine leere Piccolo-Flasche. Hat sie die versteckt? Durfte sie nichts trinken? Sollte sie nichts trinken? War sie Alkoholikerin? Falls ja, würde es mich nicht wundern, davon nichts gemerkt zu haben. Hier wird eine feine Fassade aufrecht erhalten. Alles ist picobello sauber, aufgeräumt, es gibt keine Leichen im Keller. Wenn man von mir absieht. Ich bin die Leiche, die die beiden in ihrem Keller hatten. Die Tochter, die bei den Großeltern gut aufgehoben war, die man gelegentlich besuchte, ermahnte, damit ein ordentlicher Mensch aus ihr würde, die man ins Ferienlager schickte, aber nie mit auf die schönen Reisen nahm, die man sich regelmäßig gönnte. Sogar jetzt prahlt der Stiefvater mit dem vielen Geld, das er schon zu DDR-Zeiten verdiente und erzählt mir stolz, was er damit alles angestellt hatte. Es fällt ihm nicht auf, dass ich in diesen Aufzählungen nicht vorkomme. Für mich haben sie kein Geld ausgegeben. Ich hatte es doch so gut in der Laube. Wozu brauchte ich Geld? Auch die Großeltern brauchten es nicht, meine Mutter hat ihnen kein Geld dafür gegeben, dass sie mich aufgezogen haben. Wenn sie es denn unbedingt wollen, wird sie sich gedacht haben, dann müssen sie es von mir fordern. Aber das werden sie nicht tun, schließlich haben sie das Kind. Ach, ich bin sarkastisch. Oder böse, wie man will. Man könnte auch schlicht von "ehrlich" sprechen.
Also diese leere Flasche. Ich gebe zu, dass ich manchmal dachte, dass meine Mutter doch einiges trinken würde. Aber das taten wir ja alle, wenn wir zusammen waren. Wenn ich zu Besuch kam, wurde rasch eine Flasche Sekt geöffnet. Für mich waren diese Treffen, die manchmal nichtssagend, oft aber auch verletzend waren, mit ein bisschen Alkohol im Blut leichter zu überstehen. Und sie, meine Mutter, trank fleißig mit. Es schmeckte ihr. Sekt zur Begrüßung, Rotwein zum Essen. Hatte der Taxifahrer nicht einmal gesagt, in dieser Familie würden sie alle ordentlich picheln? Ich hatte das nicht auf meine Mutter bezogen. Allerdings wurde sie immer etwas zutraulicher - so wurde das manchmal umschrieben - wenn sie etwas getrunken hatte. So wie damals auf der Beerdigung von meinem Vater. Wir saßen in einer Kneipe, in der er früher oft verkehrt hatte, und kurz nachdem meine Mutter einen freien Barhocker geentert hatte, hörte ich, wie sie zu dem jungen Freund meines Vater "Der hat doch immer gesoffen." sagte. Er hatte immer. Sie natürlich nicht. Ich stelle das erst heute infrage. Denn mir fallen etliche Momente ein, in denen sie nicht nüchtern war, in denen auch anderen aufgefallen war, dass sie ein bisschen viel getrunken oder "einen im Tee" hatte, wie man das früher auch nannte. "Einen im Tee" hatte sie auch, als sie mich im Restaurant fragte, was ich denn von "so einem" wolle. Wir feierten den Geburtstag meines Sohnes, ich war mit dem Taxifahrer gekommen. Der würde doch gar nicht zu mir passen, hatte meine Mutter gesagt, sie verstünde das nicht. Der Mann, über den sie so ungeniert redete, hatte gerade mal zwei Meter von ihr entfernt gesessen. Obwohl ich zu ähnlichen Überlegungen gekommen war, hätte sie ihre an diesem Abend für sich behalten sollen.
Die Pfarrerin ist eine patente Person, die angemessen und nicht rührselig über meine Mutter sprechen wird. Davon gehe ich aus, nachdem wir uns einander vorgestellt haben. Der Stiefvater hat im Wohnzimmer den Kaffeetisch gedeckt, ich soll den Platz ihm gegenüber einnehmen, die Pfarrerin soll neben mir sitzen. Ich möchte mich allerdings umsetzen, ich möchte sowohl den Stiefvater als auch der Pfarrerin in die Augen schauen können ohne mich umzudrehen. Um Gottes Willen. Ich solle mich sofort dorthin setzen, wo er das festgelegt hat. "Aber ich möchte lieber..." "SETZ DICH!" Seine Stimme überschlägt sich fast. Und ich setze mich. Mit aufsteigenden Tränen, was mich noch zusätzlich ärgert. Nicht nur, dass ich ihm gehorche, mir kommen auch noch die Tränen. Ich schenke den Kaffee ein, und während die Pfarrerin noch damit beschäftigt ist, einen amtlichen Bogen auszufüllen, fange ich an, meinen Kuchen zu essen. "Was machst du da? Lass das gefälligst sein." "Ich kann doch meinen Kuchen essen, ich muss hier doch keine Regeln einhalten." "So etwas macht man nicht. Das ist falsch." Am liebsten würde ich aufstehen und gehen. Aber ich bleibe. Wütend, hilflos. So habe ich mich als Kind häufig gefühlt. Aber du bist jetzt erwachsen, sagt eine Stimme in mir. Das stimmt. Also beruhige dich, du bist ja nicht ohne Grund hier, du willst mit der Pfarrerin reden, du erinnerst dich? Und das mache ich dann. Ich erzähle von der Gabe meiner Mutter, mit Menschen in Kontakt zu kommen, Freundschaften zu schließen und am Leben zu erhalten. Und ich erzähle von der Laube, davon, dass man sie 1945 oben auf das Bett gelegt hatte, damit die Russen die Älteste der Schwestern, die ganz unten lag, nicht erwischten. Und dass die Russen gut zu ihr waren. So hatte sie es mir erzählt.
Als der Stiefvater in der Küche ist, rede ich mit der Pfarrerin über das, was mir am Herzen liegt. Ich glaube, sie hat inzwischen einiges verstanden von meiner Rolle in dieser Familie. Also. Ich möchte in der Rede nichts von "geliebter Tochter" oder ähnliches hören. Geliebte Großmutter dagegen dürfte sehr wohl erwähnt werden, weil meine Mutter eine gute Großmutter war. Was denn "gute Großmutter" hieße, möchte sie wissen. Das heißt, dass sie meinen Sohn liebte, so sehr sogar, dass sie mich ein paar Monate nach seiner Geburt drängte, ihn bei ihr aufwachsen zu lassen. Was ich damals nicht wollte, aber wer weiß schon, ob diese Entscheidung richtig war. Mein Sohn war von Anfang an der ersehnte Erbe, vielleicht wäre er dort glücklich gewesen. Das alles erzähle ich der Pfarrerin nicht, nur dass meine Mutter meinen Sohn mit Freuden betreute. Auch als ich im Westen war und selber nicht nach Ost-Berlin fahren durfte, fanden wir oft eine Möglichkeit, ihn durch die Grenze zu bringen. Sie nahmen ihn mit in den Urlaub, und meine Mutter kümmerte sich auch um ihn, als er abzurutschen drohte. Ich weiß gar nicht, ob der Stiefvater weiß, wie oft sie nach Neukölln gefahren ist und meinem Sohn den Kühlschrank gefüllt hat. Geld bekam er keines von ihr, da er es nur für Alkohol ausgeben würde. Vorbehaltlos geliebt kann man vielleicht nicht sagen, aber es war auch schwierig mit ihm in seiner Drogenzeit. Dabei wusste sie nur die Hälfte von allem. Aber gut. Ich habe dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Und jetzt werde ich auch bald das Mutter-Kapitel schließen.
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