Mittwoch, 6. Januar 2021

Vor dem Haus rumpelt eine Tonne über das Pflaster

Morgen wird Papier abgeholt. Wir legen einzelnen Abfall vor die Kellertreppe, dann kann man ihn mit nach unten nehmen, wenn man in den Keller geht. Es wird allerdings nicht gern gesehen, dass ich alleine dorthin gehe. Wer weiß, welche Geheimnisse ich entdecken könnte. Sie werden das Geld vom Hausverkauf wohl nicht im Keller lagern. Allerdings vermeide ich es schon von mir aus, in den Untergrund zu gehen, gerade wenn ich alleine im Haus bin. Die Alarmanlage könnte losgehen. Das ist hier jederzeit möglich, wie ich schon feststellen musste. 

Der Stiefvater ist ganz in grün zu seiner Verabredung gefahren. Damit jeder sieht, dass er ein Jäger ist. Ein Jäger im Ruhestand, denn ich glaube nicht, dass er noch einmal auf die Jagd gehen wird. Das ist anstrengend. Gar nicht so sehr das Schießen oder das Spähen auf einem Hochsitz, ich glaube sogar, dass er das sehr gerne machen würde. Aber damit allein ist es nicht getan. Das erlegte Wild muss aufgebrochen, abtransportiert werden. Das ist körperlich anstrengend. Ich weiß sowieso nicht, warum er unbedingt Jäger werden musste. Weil sein großes Vorbild - ein Freund seines Vaters, später sein Freund, auch sein Chef, ein unangenehmer aufgeblasener Angeber - Jäger war? Vielleicht wollte er ihm imponieren. Oder dieser Gönner hatte ihm eingeredet, dass ein echter Mann auf Jagd gehen muss. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. So wie man morgens die Jalousien hochziehen muss, damit man von den Nachbarn nicht für einen Langschläfer gehalten wird. Was tun wir nicht alles für den Blick von Außen. Wir wollen klug sein. Fleißig. Belastbar. Einsatzfähig. Widerstandsfähig. Resilient. Intellektuell. Liebevoll. Hilfsbereit. Ein guter Freund. Eine gute Tochter. Eine gute Mutter. Weise. Humorvoll. Elegant. Großzügig. Empathisch. Mitfühlend. Heiter. Allen Stürmen trotzend. Nicht nachtragend. Gerecht. Weich. Hart. Analytisch. Bodenständig. Modern. Konservativ. Umweltbewusst. Verantwortungsvoll. Richtig denkend und fühlend. Angepasst. Nicht zu angepasst. Unangepasst. Revolutionär. Das Alte bewahrend. Sorgend. 

Gestern sah ich im RBB einen Bericht über eine Pilotin, die in einem Altenheim gearbeitet hat. Sie hatte einen Bericht über dieses Heim gesehen, darüber, dass dort das Personal in Quarantäne war, dass die Insassen nicht mehr richtig versorgt werden konnten. Und da sie wegen Corona gerade Kurzarbeit macht, hat sie sich dort gemeldet und ist für eine Weile in ein kleines Zimmer in diesem Heim gezogen. Ihre Schichten waren oft lang, das Personal war immer noch sehr reduziert, aber die Arbeit hat ihr Kraft gegeben. Sie wird das wieder machen. 

Eine schöne Aufgabe, denke ich so bei mir, sinnvoll vor allem. Sie würde mich von meinem eigenen kleinen Leben ablenken, das mir aber trotzdem oft so wichtig erscheint. Dabei ist es dem Universum egal, ob da ein Mensch mehr oder weniger unterwegs ist. Interessant ist unsere Ankunft auf Erden doch lediglich im Zusammenspiel mit all den anderen Seelen. So wie der Wassertropfen, der allein bedeutungslos ist, mit all den anderen Tropfen zusammen aber ein brausendes Meer ergibt. Meine Großeltern wussten von diesen Dingen. Sie wollten nicht mehr darstellen, als das, was sie waren. Menschen, die ihren Weg gingen. Einfache Menschen, könnte man sagen. Aber in ihrem Wesen so vielschichtig wie Menschen eben sind. 

Mein Großvater, Jahrgang 1883, hatte im ersten Weltkrieg gedient. Danach war er sicher, dass es nie wieder Krieg geben sollte. Er hatte als Drucker bei Ullstein gearbeitet und ein politisches Bewusstsein entwickelt. Ungerechtigkeiten erkannte er, wenn er sie sah. Er war bestimmt kein Kommunist, aber Ernst Thälmann hatte ihn beeindruckt. Der hatte schon früh gewarnt. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg. Davon war auch mein Großvater überzeugt. Zusammen mit meiner Großmutter hatte er Juden versteckt, die sich zur Deportation melden sollten. Ich habe 1998 in Israel den beiden zu Ehren einen Baum gepflanzt. Später verhinderte mein Großvater für ein paar Jahre, dass ich Pionier wurde. Sein Argument war, dass er das alles schon einmal gesehen hatte bei den Pimpfen und beim Jungvolk. Seine erste Ehefrau hatte er bei einem Seitensprung erwischt. Er warf sie aus dem Haus - so etwas war Anfang der 20er-Jahre normal - und kümmerte sich von da ab allein um die beiden Kinder, die ihre Mutter nicht mehr sehen durften, da blieb er hart. Dann lernte er meine Großmutter kennen, die auch schon eine Ehe hinter sich hatte. Ich weiß nicht, ob die Tochter aus dieser Ehe bei ihr lebte, glaube das aber nicht. Meine Großmutter, Jahrgang 1893, arbeitete als Beiköchin im Hotel Kempinski. In der Fischküche. Wo hätte sie die Tochter in Berlin unterbringen sollen? Die gemeinsamen Kinder kamen zügig, Lotti wurde 1922 geboren, Hertie 1924, meine Mutter, die Nachzüglerin, kam 1934. Eine späte Geburt. Weil mein Großvater nichts anderes konnte als Kinder machen, wie meine Großmutter nicht müde wurde zu betonen. Wo mein Großvater hart und kalt war, schien meine Großmutter Wärme auszustrahlen. Sie war der Ansicht, dass ihre Stiefkinder sehr wohl die Mutter sehen sollten. Ohne das Wissen meines Großvaters erlaubte sie es ihnen. Der Sohn Harry wollte das nie. Er hatte sich mit meinem Großvater verbündet. Er kam auch sonst nach seinem Vater. Er war ähnlich schweigsam, ähnlich rigoros. Und ebenfalls beiden gemeinsam war, dass sie Mädchen mehr mochten als Jungen. Was meinen Großvater betrifft eine gefährliche Angelegenheit, aber für den Onkel war ich Gott sei Dank nur die geliebte Nichte, deren Entwicklung fotografisch dokumentiert wurde, der in den Jahren immer wieder Geld zugeschoben wurde, da ich von meiner Mutter, dem Stiefvater keines bekam. Er interessierte sich für mich, redete mit mir. Seinen eigenen Jungen gegenüber war der Onkel dagegen hart, ein Despot. Er sperrte sie tagelang im dunklen Keller ein, verprügelte sie. Darüber munkelte man in der Familie hinter vorgehaltener Hand. Ob man auch über den Großvater munkelte? Die Männer mit der dunklen Seite.

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