um so mehr frage ich mich, wie meine Mutter es mit ihm ausgehalten hat. Vielleicht hat sie es ja nur mit Alkohol geschafft. Ich denke immer noch an die leere Flasche, die ich in ihrem Schrank gefunden habe. Der Stiefvater kommt mir vor, als wäre er längst tot bzw. eine leere Hülle. Das ist noch einmal eine andere Art des Vegetierens als die, die ich kenne. Er erinnert sich an viele Details. Wann sein Vater wo mit wem wie lange gearbeitet hatte. Seine eigenen verschieden Baustellen. Der Pfarrerin hat er erzählt, dass er oft an ihren Vater denkt. Die Pfarrerin war verblüfft. "Aber der ist seit zehn Jahren tot." Der Stiefvater hatte nur genickt. "Das macht nichts, ich denke oft an ihn."
An mich, die ich hier bei ihm bin, denkt er nicht. Mich behandelt er wie ein Kind. Sagt mir im Befehlston, ich solle doch gefälligst in meinem Zimmer regelmäßig lüften. Dabei rümpft er die Nase. Ich habe gerade eine Stunde lang das Fenster geöffnet. "Na dann ist ja gut." Als ich auf der Hälfte der Treppe bin, entdeckt er ein paar Tropfen oben auf dem Teppich. Er ist erbost. "Was ist denn das?" Ich deutete auf das Wasserglas, das ich bei mir trage. Ich habe wohl etwas davon verloren. "Du bist schon wie deine Mutter." Gleich kippe ich ihm das Wasser ins Gesicht. "Und du bist ein böser alter Mann."
Goloka, mit dem ich alle paar Tage telefoniere, spricht von Willkür, als ich ihm erzähle, wie der Stiefvater mich behandelt. Dieser Willkür war ich schon als Kind ausgesetzt, ich wusste damals nicht, wie ich ihr begegnen sollte. Sie tun etwas, und hinterher ist da nichts gewesen. Wir? Wir haben nichts gemacht. Heute bin ich erwachsen. Ich habe nichts zu verlieren. Der Stiefvater ist nicht mein Vater, und wenn er es wäre, würde das nichts ändern. Ich bin hier fertig. Weder erfahre ich etwas Neues über meine Mutter, im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass die Dinge, die meine frühe Kindheit, den Aufenthalt im Heim, den Übergang zu den Großeltern betreffen, im Dunkeln bleiben sollen. Anstelle Antworten auf meine Fragen zu bekommen, soll ich das Leben leben, das der Stiefvater mit meiner Mutter geführt hat. Und ganz so, wie ich es gewohnt bin, schreibe ich darüber. Bin ich diesem Mann etwas schuldig? Nein. Er wäre höchstens mir etwas schuldig. Eine Entschuldigung. Eine späte Einsicht, dass er, dass sie falsch gehandelt haben. Er erzählt mir, dass mein Sohn zu ihm ziehen würde. Er hat gerade Stress mit seiner Partnerin, deswegen kann er sich wohl vorstellen, mit seinem Großvater zu leben. Aber der Stiefvater möchte nicht, dass mein Sohn zu ihm zieht. Er spricht es nicht aus, aber mir ist klar, dass ihm lieb wäre, wenn dieses Angebot von mir kommen würde.
Meinen einzigen noch lebenden Großcousin, auch er fast neunzig, werde ich nun nicht bei der Beerdigung sehen. Schuld daran ist Corona und die damit einhergehenden Vorschriften. Vielleicht kann ich mit ihm telefonieren, kann am Telefon ein paar Dinge erfragen. Er kannte meine Mutter gut, sie haben sich häufig gesehen, als sie jung waren. Auch später haben sie den Kontakt aufrecht erhalten. Andererseits - was muss ich denn noch wissen? Ob meine Mutter mich zur Adoption freigeben wollte? Wie lange genau ich im Heim bleiben musste? Wie meine Mutter als junge Frau war? Wovon sie geträumt hat? Würde das etwas ändern? Ich habe der Pfarrerin erzählt, dass meine Mutter studieren wollte. Sprachen sind ihr leicht gefallen, sie wäre gern Dolmetscherin geworden. Es kam sogar eine Lehrerin zu meinen Großeltern, die meinen Großvater überreden wollte, meine Mutter länger zur Schule gehen zu lassen. Aber diesen Mann konnte man nicht überreden. Wozu sollte das gut sein? Seine Tochter würde ja doch heiraten, wozu studieren? Er war altmodisch. Und meine Mutter hatte sich gefügt. Angeblich hat sie zwei Jahre lang schwarz im Westen gearbeitet. So hat es der Stiefvater der Pfarrerin erzählt. Davon habe ich noch nie gehört. Zu diesem Thema könnte ich den Großcousin befragen. Denn diese Schwarzarbeit fällt mit meiner Geburt zusammen. War ich deswegen im Heim? Damit meine Mutter im Westen arbeiten konnte? Ich vermute, dass der Stiefvater auch nicht alles weiß. Oder dass er etwas weiß, aber dass er Dinge vertuscht, die ihm unangenehm sind. Er ist ja sehr moralisch. Obwohl moralisch das falsche Wort ist. Es ist ihm wichtig, was andere denken. Man hält den Garten in Ordnung. Das Haus. Man wischt Staub. Räumt nach dem Essen die Küche auf. Zieht sich die Schuhe an der Treppe aus, wartet mit dem Kuchenessen bis alle anfangen, man setzt sich auf den zugewiesenen Stuhl, man gehorcht. Man macht das, weil man es eben so macht. Eine Autorität - der Ältere, er in diesem Fall - legt fest, was gut und richtig ist. Dieser Entscheidung haben sich Kinder zu fügen. Auch 65jährige Kinder. Weil die es eben nicht besser wissen können. Ich bin ganz schön geladen, wie ich gerade merke. Plötzlich bin ich wieder in dem Umfeld gelandet, das ich schon als Kind gehasst habe. Vor dem ich mich vielleicht sogar gefürchtet habe. Ich wusste, man spricht mir meine eigenen Gedanken und Regungen ab. Aber das ist Schnee von gestern. Bzw. wäre Schnee von gestern, wäre nicht vor ein paar Wochen meine Mutter gestorben. Jetzt erlebe ich sozusagen noch einmal im Schnelldurchlauf die Schrecken meiner Kindheit. Sie sehen, sie hören mich nicht. Als ich die gedruckten Traueranzeigen von meinem Konto bezahlen soll, weil der Stiefvater selber nichts von online-Banking hält, muss ich ihm gestehen, dass kein Geld auf meinem Konto ist. Er ist mal wieder kurz vor dem Hyperventilieren. Wie kann es sein, dass ich kein Geld habe? Er ist empört und verärgert. Weil ich vielleicht mit sehr wenig Geld lebe? Das interessiert ihn nicht. Ihn interessiert diese Überweisung, die ich nun nicht für ihn tätigen kann. Und obwohl die Tür zu meinem Gefängnis offen steht, bleibe ich.
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