lasse ich mich bei meiner Hausärztin auf Corona testen. Ich finde es überflüssig, aber er möchte es so. Also bitte. Und jetzt möchte er zusammen mit mir einkaufen gehen. Auf dem Rückweg stürzt er. Plötzlich liegt er da, wie hingestreckt. Er wollte an einem Briefkasten den Namen lesen, und dann muss er die Bordsteinkante übersehen haben. Er ist verdutzt, hat sich aber nichts getan. Stattdessen muss er unbedingt die Sachen einsammeln, die ihm aus dem Einkaufsbeutel gefallen sind. Weil er so weit nach vorn gebeugt läuft, sehe ich schon den nächsten Sturz kommen. Ich bestehe darauf, dass er sich bei mir einhakt. Auf dem Rücken den schweren Rucksack, links einen Beutel, rechts den Stiefvater, den ich mehr zu tragen scheine, als dass er mit eigener Kraft läuft. Ich weiß nicht, wie wir nach Hause gekommen sind.
Am Nachmittag koche ich für uns, das mache ich immer, wenn ich da bin. Ich koche größere Portionen, von denen ich die Hälfte einfriere, damit der Stiefvater noch etwas zu essen hat, wenn ich nicht da bin. Heute werden Entenbrüste verarbeitet. Der Stiefvater macht Pläne. Er will an die Ostsee fahren, ich soll ihn begleiten. Das wundert mich nicht. Männer haben mich gern in ihrer Nähe. Ich bin pflegeleicht und stelle keine großen Ansprüche. Lasst mir morgens meine zwei Stunden im Bett für mich, fummelt nicht an mir herum, dann ist alles gut. Natürlich haben die Männer, mit denen ich es in den letzten Jahren versucht habe, es nicht sein lassen können. Natürlich sind sie nicht nur zum Reden oder Kuscheln morgens in mein Bett gekommen. Warum merke ich eigentlich immer erst mit Verspätung, wie übergriffig ein solches Verhalten ist? Auch die Bemerkungen des Stiefvaters empfinde ich als übergriffig. Diese Korrekturen, die Bemerkungen über die Unzuverlässigkeit der Fenglers. Die Fenglers - damit ist die Familie meiner Mutter gemeint. Vor allem aber beziehen sich diese Worte auf meinen Sohn und mich. Wir sind diese unzuverlässigen Menschen.
Abends google ich Wohnungen in Mecklenburg, in Brandenburg. Es ist nicht das erste Mal, dass ich darüber nachdenke, die Stadt zu verlassen. Ich weiß gar nicht mehr, wann mir diese Ambivalenz das erste Mal aufgefallen ist. Ich will hier nicht länger leben, aber ich schaffe es nicht, fortzugehen. Als ich Ende 30 war, spürte ich plötzlich diesen Sog nach Natur, nach einem kleinen Ort auf dem Land, an dem ich mich entspannen konnte. Diesen dringlichen Wunsch erklärte ich mir damals damit, dass ich die ersten 19 Jahre meines Lebens in einer Kleingartenkolonie in einer Laube verbracht habe. Dass ich die Jahreszeiten hautnah erlebt habe, das einfache Leben, nachdem sich heute auch junge Menschen sehnen, ohne sich über die Herkunft ihrer Gefühle im klaren zu sein. Sie wollen minimalistisch leben, sich selbst versorgen, wenig Geld und Ressourcen verbrauchen. Vielleicht haben sie gemerkt, dass viele Dinge, die uns als wichtig angepriesen werden - permanent unterwegs sein, arbeiten um konsumieren zu können - die Seele kalt lassen bzw. nicht wirklich erfüllend sind. Sie ziehen in einen Bauwagen, ein Tiny Haus, aufs Land in eine Kommune, besitzen nur 100 Dinge, Socken inklusive, mit wenig oder mit gar keinem Geld, alles ist möglich. Ich spüre diese Sehnsucht nach einem anderen, einem einfacheren Leben seit fast 40 Jahren. Schon in den 80ern nervte ich meine Partner, weil ich sie dazu überreden wollte, mit mir aufs Land zu ziehen. Sie waren glücklich in der Stadt. Schließlich hatten sie ihre Dörfer und Kleinstädte verlassen, um in Berlin zu leben. Und dann kam ich, die Berlinerin, die raus aufs Land wollte. Natürlich wollte ich nicht alleine aufs Land. Ich wollte dort mit jemandem leben, dem ich mich nah fühlte. Zugehörig.
Jetzt, wo meine Mutter gestorben ist, spüre ich diese Sehnsucht noch einmal stärker. Ganz fort war sie ja nie. Ich bin glücklich und ganz bei mir, wenn ich einmal im Jahr ins Havelland fahre, um mich dort dem einfachen Leben zu widmen. Der Stille. Dem weiten Himmel, an dem nachts Stern an Stern leuchtet, wo man sogar die Milchstraße sehen kann. Ich spüre jedes Mal, wie mein System herunterfährt, wie ich mich entspanne und eine Art Frieden finde. Natürlich sagen die Freundinnen, dass ich alleine dort nicht glücklich wäre, dass mir die Kinos, die Museen, die Kultur fehlen würde, Freunde nicht zu vergessen. Die mich ja besuchen könnten, wenn sie das wollten. Vielleicht haben die Freundinnen recht, das ist der Sehnsucht in mir allerdings egal.
Natürlich rede ich mit Goloko über meine Recherchen. Erzähle ihm von dem Platz, nach dem ich suche. Von dem Ort, an dem ich nicht verantwortlich bin. Wo ich alleine bin, aber nicht einsam, wo es inspirierende Menschen gibt. Ich will nicht länger Dinge machen, die ich gar nicht machen will. Will nicht ständig neue Mitbewohner suchen, nicht mit Menschen leben, die mich kaum interessieren, mit denen ich freiwillig eher nicht leben würde. Eigentlich ist der Hausmann der Einzige, dem ich mich hier nah fühle. Aber es müssen nun mal fünf oder sechs Menschen in dem alten Haus leben, um das Projekt Wohngemeinschaft zu finanzieren. Wieder geht es um das Thema Heimat, die ich im Außen suche, weil ich sie in meinem Inneren so oft nicht finde. Ich musste meine Heimat früh verlassen. Es gab schon für das Kind keine. Ich hatte darauf gehofft, dass mein wirkliches Leben beginnen würde, wenn ich die Laube verlasse. Stattdessen war ich mit allem überfordert, was das Erwachsenwerden mit sich brachte. Liebe. Nähe. Sexualität. Erste Schwangerschaft. Abbruch der Schwangerschaft. Mein Körper hatte mit Migräne, mit Panikattacken reagiert. Und dann breche ich in Tränen aus wegen eines einzigen Satzes von Goloka. "Das Leben hat dich nicht auf das Leben vorbereitet." Da ist richtig. Und im Westen ist es nicht besser geworden. Nur bunter. Es brauchte eine Weile, bis mir aufgefallen war, dass Brot und Spiele Menschen genau so gängeln und verblöden, wie das früher die DDR-Bonzen zu tun versucht hatten. Auch dort war meine Heimat nicht. Das, was ich bis heute lebe, ist das, was mir übrig blieb. Eine Art erweiterter Laube. Jeder Befreiungsversuch wird sanktioniert. Ich darf nicht fortgehen, weil ein anderer Mensch dann leiden wird. So ist es auch hier. Wenn ich den Stiefvater verlasse, wird er leiden. Er ist ein armer, alter Mann, der mich gern um sich hat, der auch keine Sekunde daran zweifelt, dass er diese Zuwendung verdient hat. Er war zwar für mich nicht da, aber ich bin jetzt für ihn da. Diese Diskrepanz fällt ihm nicht auf.
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