Donnerstag, 11. Februar 2021

Abschied

Ich habe nicht nur kaum geschlafen, ich hatte auch nach langer Zeit mal wieder eine Panikattacke. Vielleicht, weil ich über mein Gespräch mit Goloka nachgedacht habe. Mir ist schlagartig klar geworden, was ich suche, wenn ich nach Wohnungen an der Ostsee, in der Uckermark suche. Ich suche ein Leben. Als ich diesen Satz gedacht habe, als ich also dachte, ich suche nach einem anderen Leben, hörte ich diese männliche Stimme in mir, die aus einer alten Fernseh-Werbung stammt, sie spricht deutsch mit italienischem Akzent, und diese Stimme sagte "isch abe gar kein Leben". Und dann kam die Attacke. Wahrscheinlich ist es mir unangenehm, kein Leben zu haben. Vielleicht könnte ich mit einem Mann ein Leben haben. Dachte ich bis vor kurzem. Heimlich meist. Aber das spielt keine Rolle. Gib die Hoffnung auf. Das war damals 2010, als ich dachte, nach dieser Trennung wäre mein Leben vorbei, die Empfehlung der buddhistischen Nonne. Eine hilfreiche Empfehlung. Wie sehr mir Menschen auf die Nerven gehen, die sich gegenseitig ihrer gelungenen Leben versichern und mich gerne als Zeugin dabei haben. Mein Haus. Mein Mann. Meine Spiritualität. Meine gelungenen Kinder. Mein toller Job. Mein Wohlstand. Ich habe nichts von allem. Da geht es mir allerdings wie vielen anderen. Ich vergleiche mich, das sollte ich sein lassen. Nicht nur nachts vor der Beerdigung meiner Mutter, auch am Tage und an anderen Orten. 

Um 7.45 Uhr betrete ich unausgeschlafen und mit den Resten der Panik kämpfend den Flur. Der Stiefvater steht mürrisch vor mir, als hätte er auf mich gewartet. "Na, stehst du auch schon auf?" Er ist verärgert. Der Schlüssel ist ihm abgebrochen, ein Rest steckt noch im Schloss. Ich sehe mir gleich ein Tutorial auf Youtube an, darin wird erklärt, wie man den Schlüsselrest aus dem Schloss bekommt. "So ein Quatsch. So ein Blödsinn. Du gehst da weg von der Tür." Schon wieder dieser Befehlston. Bitte, dann gehe ich eben weg. Es schneit schon wieder. Der Stiefvater geht ins Bad, um sich "fein" zu machen. Ich bin schon fein. Schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpulli, darüber werde ich eine graue Strickjacke tragen. 

Und dann ist es so weit. Mein Sohn ist da, er begrüßt mich freundlich, auch seine Freundin lächelt mir zu. Allerdings ist er zu spät dran, was an den Straßenverhältnissen liegt. Es ist glatt, und er ist mit seinem Auto mehr gerutscht, als dass er fahren konnte. Er ist noch mit Sommerreifen unterwegs. Schon die Verspätung hat dazu geführt, dass ich mir wieder den Sermon über die Unzuverlässigkeit der Familie Fengler anhören musste. Aber meine Mutter war auch eine Fengler. Ja, aber die war eine Ausnahme. Dass mein Sohn nun nicht bereit ist, mit seinem Auto zum Friedhof zu fahren - die Straßen hier im Dorf werden noch glatter sein - löst einen Wutausbruch beim Stiefvater aus. Er tobt. Beschimpft meinen Sohn, der sich beschimpfen lässt. Ich fühle mich berufen einzugreifen, was die Angelegenheit nicht besser macht. Der Stiefvater hat ein dickes Auto in der Garage, es wäre überhaupt kein Problem, mit diesem Auto zu fahren. Aber nein. Es war so und so abgesprochen, und wenn das nun nicht geht, weil der Versager von Enkel es versäumt hat, Winterreifen aufzuziehen, dann fragt er die Nachbarn. Die ihn und mich natürlich mitnehmen, eine andere Nachbarin bietet meinem Sohn und seiner Partnerin eine Mitfahrgelegenheit. Wie so oft in der Vergangenheit frage ich mich, was ich mit diesen Menschen zu tun habe. Wir wollen eine Ehefrau, Mutter, Großmutter beerdigen, und hier geht es - worum geht es eigentlich? Ich bedaure für einen Moment, dass ich nicht doch den Taxifahrer gebeten habe, mir zur Seite zu stehen. Gemacht hätte er es. Eine Art Bodygard für die missratene Tochter. So hat der Stiefvater mich früher oft genannt. 

Dank Corona sind wir nur eine kleine Gruppe. Aber die genügt schon, mir diese letzten Stunden noch schwerer zu machen. In der Kapelle sitzen wir uns gegenüber. Die Familie auf der einen Seite, auf der anderen die Nachbarn, ein befreundetes Paar. Ich fühle mich von Anfang an beobachtet. Warum heult sie denn so, jetzt wo ihre Mutter tot ist. Wäre sie lieber zu Besuch gekommen, das ist doch hier alles nur Show. Aber wer weiß, vielleicht denken sie auch nichts dergleichen. Die Pfarrerin hält ihr Wort. Es wird nicht gesäuselt. Was mir trotzdem oder erst recht die Tränen in die Augen treibt. "1955 wurde die Tochter geboren." Das war es. Kein weiteres Wort über die Tochter. Aber über die gute Großmutter, die Partnerin. Dann ist es Gott sei Dank vorbei. Wir verlassen die kleine Kapelle in der richtigen Rangfolge. Der Stiefvater geht voran, gefolgt von meinem Sohn und seiner Partnerin, dann gibt es eine Lücke, und dann komme ich. So viel Symbolik in der kurzen Zeit. Aber dann ist auch das geschafft, die Urne mit der Asche meiner Mutter befindet sich in der ausgehobenen Grube. Ich habe eine Art Blackout, denn ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sie da hinein gekommen ist, ob noch etwas gesagt wurde, was ich gemacht habe. Das Übliche wahrscheinlich. Deswegen kehre ich noch einmal zur Urne zurück, während die anderen schon zum Ausgang gehen. Ich möchte einen Moment allein sein. Das war es dann also mit uns, denke ich. Du bist irgendwo, und ich werde mich gleich den anderen anschließen. Was es noch alles zu sagen gäbe. Ich lasse ein paar Rosenblätter in die Grube rieseln. Tschüss Mama. Genau in diesem Moment kommt die Sonne hervor und hüllt mich für eine Minute in gleißendes Licht. Du bist jetzt frei. War das die Stimme meiner Mutter oder meine eigene, ich weiß es nicht. Aber dieses besondere Licht, das gleich wieder verschwindet, nachdem es mich beleuchtet hat, tröstet mich. 

Ein paar Stunden später - mein Sohn ist mit seiner Partnerin nach Hause gefahren - bin ich wütend und unglücklich. Ich konfrontiere den Stiefvater. "Weißt du eigentlich, wie das hier für mich ist? Keine Minute denkst du daran, wie es mir geht, wie ich mich fühle. Wie kannst du so herzlos sein und in meiner Gegenwart über das Haus sprechen, das du meinem Sohn so großzügig überlässt. Immer geht es nur um ihn." 

"Na und?" 

Mir ist klar, dass meine Beschuldigungen mit alten Verletzungen zu tun haben. Der Tod, die nächtliche Panik, die Beerdigung, das Zusammentreffen mit meinem Sohn, das lieblose Verhalten der Anwesenden haben mich in Stress versetzt. Natürlich gönne ich meinem Sohn alle Zuwendungen. Aber hier lediglich unter ferner liefen zu fungieren, und das auch noch mit einem "Na und?" kommentiert zu bekommen, das ist zu viel. "Ich kündige. Hörst du?" Dann packe ich meine Sachen zusammen und gehe. 

Später schreibt der Stiefvater mir eine SMS. Er wird mir nie, wirklich niemals verzeihen, dass ich ihn ausgerechnet am Tag der Beerdigung seiner lieben Frau allein gelassen habe. In den Wochen, die ich bei ihm gewohnt, für ihn gekocht, ihm Gesellschaft geleistet habe, ist ihm nie eingefallen, dass seine geliebte Frau gleichzeitig meine Mutter war. Vielleicht nicht gerade meine geliebte Mutter, aber meine Mutter immerhin. Ich habe das letzte Band zu meiner Vergangenheit gekappt. Meine Mutter ist tot. Ich bin frei.

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