Samstag, 15. November 2025

Zweite Liebe

 

Gerd ist ein Jahr älter als ich. Im Sommer kommt er an den Wochenenden mit seinen Eltern in die Nachbarkolonie. Die Laube seiner Eltern ist ein paar Hundert Meter von unserer entfernt, aber unsere Familien kennen sich nicht. Wie auch. Meine Großeltern gehen nicht spazieren, sie fahren nicht mit dem Rad. Sie bewegen sich kaum mehr als ein paar Meter von der Laube weg. Ihre weitesten Wege sind die zur Telefonzelle oder zum Konsum.

Wenn ich Gerd zufällig treffe – wir fahren beide mit den Rädern herum, das machen alle Kinder und Jugendlichen so – reden wir ein paar Worte, bevor jeder wieder seiner Wege geht. Anschließend habe ich gute Laune.

Dann kommt der große Tag: Wir haben eine richtige Verabredung. Für mich ist es die erste dieser Art.

Wir laufen die Dr.-Dorsch-Allee bis zum Ende, die natürlich keine Allee ist, sondern ein etwas breiterer Sandweg. Links geht es zu den Rieselfeldern, die der Grund dafür sind, dass mein Stiefvater meine Mutter und mich gern „derer von Rieselfeld“ nennt, was lustig sein soll. Mit Gerd gehe ich in die andere Richtung, vorbei an Getreidefeldern, an deren Rand ich im Sommer Mohn und Kornblumen finde. Manchmal binde ich daraus Sträuße.

Nach einem halben Kilometer stehen wir vor dem geheimnisvollen Berg dunkler Steinbrocken, die wie hingekippt mitten in der Landschaft liegen. Ein ehemaliger Bunker, den man nach dem Krieg gesprengt hat. Ich weiß, dass dort Menschen Schutz gesucht haben, aber was Krieg bedeutet, welches Grauen sich dahinter verbirgt, weiß ich nicht. Meine Großmutter meinte einmal, die Strecke sei ihr damals zu weit gewesen, außerdem sei ein Bunker auch nicht wirklich sicher.

Ein Stück entfernt liegt unser Ziel: die Litfaßsäule. Bis heute staune ich darüber, denn um sie herum gibt es nichts außer Feldern und einem schmalen Weg nach Blankenfelde. Was eine Litfaßsäule mitten im Nirgendwo zu suchen hat — ich kann es mir nicht erklären.

An diesem kühlen Sommernachmittag sitzen wir nebeneinander, die Rücken an die Säule gelehnt. Wir reden, oder wir schweigen. Und dann passiert es einfach so: Er küsst mich auf den Mund. Es ist so schön, dass ich fürchte, vor Schreck oder Freude in Ohnmacht zu fallen. Natürlich bin ich vorher noch nie in Ohnmacht gefallen. Aber aus den Büchern meiner Mutter — Trotzkopf, Nesthäkchen, ich habe alles gelesen, was ich finden konnte — weiß ich, dass Frauen manchmal so etwas passiert.

Ein Radfahrer fährt an uns vorbei. Das ist ungewöhnlich. Und als ich das zweite Mal geküsst werde, kommt wieder einer. Gerd sagt: „Hier ist ja ein Verkehr wie am Kudamm.“ Ich lache, denn natürlich kenne ich den Kudamm vom Hören. Eine noble Straße in West-Berlin, auf der sich in meiner Fantasie die Reichen und Schönen treffen. Er hätte auch St. Tropez sagen können, es würde mich genauso amüsieren.

Eine Stunde später, vielleicht zwei, stehe ich in unserem Garten über die schmale Bank neben der Wasserpumpe gebeugt und bearbeite meine Jeans mit einer Bürste voller Waschseife, damit sie älter aussieht als sie ist. Neue Jeans finden wir blöd.

Mein West-Vater zahlt zwar keinen Unterhalt — daran werde ich immer wieder erinnert —, aber alle paar Jahre bekomme ich von ihm eine neue Levi’s. Dieselbe Marke, die auch er trägt. Auch Strumpfhosen oder einzelne Kleidungsstücke bringt er manchmal mit.

Ich schrubbe also meine Jeans, als meine Freundin Marina angeschlendert kommt. Die großen Ferien verbringt sie mit ihren Eltern bei uns in der Kolonie, deswegen sind wir eigentlich nur Sommerfreundinnen. Nach ein paar Minuten frage ich sie in einem Nebensatz, ob man vom Küssen Kinder bekommt.

Das scheint sie zu erheitern. Ich glaube, sie weiß mehr als ich, aber wie viel mehr, bleibt ihr Geheimnis. Jedenfalls weiß sie — und da ist sie sich absolut sicher — dass man vom Küssen nicht schwanger wird.

Wir erörtern das Thema nicht weiter. Aber ich bin froh, dass sie recht hatte.

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