Das Schwarz-Weiß-Foto hing lange Zeit an meiner Pinnwand. Auf der Rückseite steht: „My niece and me! Uncle Günter. East Berlin 1968, New year.“ Ich weiß nicht mehr, ob ich das Foto nach dem Tod meines Vaters gefunden habe, oder ob es schon immer in meinem Besitz war. Aber an diesen besonderen Tag erinnere ich mich sehr gut.
Es ist das erste Mal, dass jemand mit mir durch die Stadt läuft und mit mir redet, als wäre es ein Vergnügen, dies zu tun. Ich bin zwölf Jahre alt und kenne von Berlin nicht viel mehr als Buchholz, die Kleingartenanlage, in der ich mit meinen Großeltern in der Laube wohne. Ab und zu fahre ich mit der Straßenbahn und dem Bus nach Wilhelmsruh, verbringe das Wochenende bei meiner Mutter und ihrem Mann. Mehr habe ich bis jetzt von Berlin nicht gesehen.
Und dann kommt dieser Onkel, der mich aus meinem Dornröschenschlaf weckt. Er ist der jüngste Bruder meines Vaters. Jahrgang ’38. Um ihn ranken sich Sagen. In seiner Jugend war er einmal fast Berliner Meister im Boxen. Eigentlich wollte er wie der älteste der Brüder – mit meinem Vater waren es drei, eine Schwester gab es auch noch – Kunst studieren, begabt genug war er, aber dafür hätte er in die FDJ eintreten müssen. Das hatte er abgelehnt. Dann würde er eben nicht studieren.
Dafür trampte er Ende der fünfziger Jahre von Ost-Berlin nach Indien, bereiste anschließend die halbe Welt. Fuhr mit einem Frachtschiff nach Australien, wo er seine spätere Frau kennenlernte und sesshaft wurde. Er hat Hochhäuser gebaut, Teppiche verkauft, nach Öl gebohrt. Und als er schon über fünfzig war, studierte er in Sydney doch noch Kunst. Einige seiner Arbeiten kann man heute online sehen, sie haben immer einen politischen Bezug.
Aber all das gehört in seine Zukunft. An jenem Neujahrstag 1968 ist er einfach nur der Onkel, der mich abholt.
Der Onkel ist auf einer Rundreise durch Europa, er hat schon Freunde von früher aufgesucht, auch die Schwester und den Schwager in München. Eine Weile wohnt er bei meinem Vater in West-Berlin, und natürlich besucht er auch seine Mutter in Ost-Berlin, meine zweite Großmutter.
Am Neujahrstag 1968 holt er mich dann in Buchholz ab, um mit mir durch die Stadt zu gehen. Er zeigt mir die Museumsinsel, den Dom. Zum Schluss sind wir in einer Kirche mit einer Art Kreuzweg oder Kreuzgang. Vielleicht führt er mich in die St.-Hedwigs-Kathedrale – ich kann mich nicht so genau erinnern.
Was ich dagegen sehr gut erinnere, ist die Begeisterung und Freude, die ich an diesem Tag und auch später immer wieder empfinde, wenn ich daran zurückdenke. Vor mir hat sich eine neue Welt geöffnet. Ich kenne aus meiner Familie leidenschaftliche Diskussionen über Politik, man redet darüber, was Menschen plötzlich zustoßen kann. In den meisten Gesprächen jedoch geht es um alltägliche Erlebnisse.
Mit mir hat noch niemand über Kunst geredet, keiner hat mich bisher auf architektonische Besonderheiten aufmerksam gemacht oder mich gar zu einem anderen Sehen eingeladen. Das ist neu und aufregend, geradezu inspirierend.
Von diesem Onkel, der nicht nur klug, sondern auch attraktiv ist, bin ich so begeistert, dass ich mir vornehme, ihn zu heiraten, wenn ich erwachsen bin. Genauso einen Mann will ich. Das ist das erste, was ich in das Tagebuch schreibe, das ich gerade von meiner West-Tante bekommen habe. Mein erstes Tagebuch, dem unzählige andere folgen werden.
Obwohl ich glaube, ich hätte diese Überlegungen für mich behalten, muss ich sie jemandem erzählt haben, denn wie mir später berichtet wird, hat sich der väterliche Teil der Familie sehr über mein Vorhaben amüsiert. Selbstverständlich heirate ich den Onkel später nicht.
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