Goloka hat mir vorgeschlagen, meiner Mutter einen Brief zu schreiben. Meist ist an seinen Ideen oder Eingebungen etwas dran, auch wenn ich den Sinn erst später entdecke. Also.
Liebe Mama, gerade habe ich mir noch einmal die Fotos angeschaut, auf denen Du so jung und glücklich wirkst. Neugierig auf das Leben. Ich kann es nicht anders ausdrücken, aber genau das sehe ich. Du bist neugierig darauf, was das Leben Dir bringen wird. Abenteuer. Erfüllung. Liebe. Du bist zuversichtlich. Aber auch eine gewisse Scheu meine ich zu erkennen. Schön und unschuldig fällt mir dazu ein. Ich habe mich sofort in diese junge Frau verliebt. Es wundert mich nicht, dass Du viele Verehrer hattest. Die der Großvater nicht geduldet hat. Ich erinnere mich, dass mir erzählt wurde, er hätte Dich noch als 18jährige geohrfeigt, weil Du "herum poussiert" hättest. So nannte man das früher. Du warst Anfang 20, als Du meinen Vater kennengelernt hast. Ein Mann, der Dich mit Worten und Gesten verführte. Jung. Stürmisch. Klug. Zärtlich. Auch wenn Du fandest, dass er ein Angeber war, bist Du seinem Charme erlegen. Und seinen Verführungskünsten. Er hat bis zu seinem Tod davon geredet, wie sehr er Dich geliebt hat, immer noch liebte. Immer flirtete er mit Dir, wenn er Dich bei mir sah. Wir mussten den Stiefvater im Wohnzimmer ablenken, damit er in der Küche...ja was eigentlich tun konnte? Wie hast Du geweint, als Du von seinem Tod erfahren hast. "Aber er war doch meine große Liebe....." Was hast Du in Deiner zweiten Ehe bekommen? Ein Leben, so wie Du das einst verstanden hattest, wohl nicht. Weißt Du noch? Wie Du in Straßen Priepert Deinem Mann über den Mund gefahren bist? Er solle still sein, er wüsste gar nicht, was Leben ist. Er hätte noch gar nicht gelebt. Das muss 1990/91 gewesen sein. Du warst 57. Ich 36. Mein damaliger Freund hatte Deine Füße mit den rot lackierten Nägeln bewundert. Er schien ganz verliebt in diese Füße. Ich war gerührt ob dieser Zärtlichkeit. Eifersüchtig war ich nicht. Ich wusste, Du mochtest diesen Freund. Ich glaube, von allen Männern, die ich Dir je vorgestellt habe, mochtest Du ihn am liebsten. Und er mochte Dich. Ich höre immer noch, in welch liebevollen Ton er "Käthchen" zu Dir sagte. In diesem Moment war ich froh, eine wie Dich zur Mutter zu haben. Du hast mir an diesem Abend etwas von Dir offenbart, etwas von Deinen Wünschen und Sehnsüchten. Mit meinem Vater hast du sie im Gegensatz zum Stiefvater leben können. Aber das war "zu viel" Leben. Zu viel Chaos vor allem mit diesem unzuverlässigen, unberechenbaren Mann. Das Kind - ich also - sollte ihn an Dich binden, sollte ihn ruhiger und verlässlicher machen. So hast Du mir das einmal erzählt, als ich mit der Kamera bei Euch war und das Interview mit Dir gemacht habe. Es hat nicht geklappt. Aber ich war da. Ich war der Beweis. Der Beweis für das Scheitern Deines Planes. Und dann hast Du mich ins Heim gegeben. Vielleicht nicht am ersten, aber am zweiten Tag. Weißt Du, was das für ein Kind bedeutet?
Nachdem ich bis hierher mit dem Schreiben gelangt bin, muss ich aufstehen, muss mich bewegen. Ich befreie mein Zimmer von alten Zeitungen, schiebe das Bett durch die Gegend, stelle Kleinigkeiten um. Das dauert 45 Minuten. Dann habe ich mich ein wenig abreagiert. Ob sie noch da ist? Vorhin habe ich sie "gesehen". Sie saß auf meinem Schreibtisch, die Beine hübsch übereinander geschlagen. Jetzt sehe ich sie erneut. Sie sitzt auf einer Schaukel, fliegt mitten durch mein Zimmer. Das sollte ich auch tun, ruft sie mir zu. Ach Mama.
In mir ist so viel Liebe. Ich liebe sie. Als hätten die Fotos eine Barriere eingerissen. Schon muss ich wieder weinen. Sie wusste leider nicht, wie es ist, ein Kind zu lieben. Sie war selten für mich da, und wenn sie da war, hat sie an meiner Erziehung gearbeitet. Nichts habe ich gut genug gemacht. Obwohl ich eine sehr gute Schülerin war, hätte ich immer noch besser sein sollen. Sie ist nicht zu meiner Abi-Feier gekommen, weil sie sich angeblich geschämt hat. Der Stiefvater hat sich geschämt. Eine Zwei im Abi, wo doch eine Eins möglich gewesen wäre. Was haben wir uns gestritten. Eigentlich hat sich das erst nach Großmutters Tod geändert. Nachdem ich ihr einen Enkel geboren hatte. Wie gern wäre sie ihm Mutter und Großmutter in einem gewesen. Vielleicht hätte ich mich auf den Deal einlassen sollen. Eine gute Mutter bin auch ich nicht geworden. Oft ärgert es mich, wenn der Stiefvater sagt, ich wäre wie meine Mutter, denn das ist nie als Kompliment gemeint. Aber in vielem bin ich ihr tatsächlich ähnlich. Auf Fotos erkenne ich eine an mir oft ihre Mimik und Gestik.
Als Kind - vielleicht war ich 6 oder 7 - habe ich ihren Chic bewundert. Sie trug Kleider, die eine Schneiderin für sie genäht hatte, Kostüme, braune Pumps mit stattlichem Absatz. Nubuk mit Leder. Sie kam aus einer anderen Welt. Sie war keine Laubenpieperin. Manche Männer haben mir schon gesagt, ich hätte eine gewisse Eleganz, aber eigentlich habe ich dieses laubenpieperhafte nie ganz ablegen können. Wenn ich mir überlege, wie ich manchmal zu Hause rumlaufe. Sie war elegant. Wurde im Büro die Gräfin genannt. Und die Gräfin wollte Beständigkeit und finanzielle Sicherheit. Der Stiefvater hat ihr beides gegeben. In den letzten Tagen dachte ich allerdings, dass sie auch in ihn verliebt gewesen sein muss. Auf vielen Fotos ist da etwas zwischen den beiden. Sie hatte immer Sorge, er könnte sie verlassen. Früher zumindest. Weil er ja jünger ist (älter aussieht), weil er auch eine andere haben könnte. Ich wollte sie dann beruhigen. Aber wer nimmt ihn denn? Und das habe ich nicht nur so dahin gesagt. Ich habe nie wirklich verstanden, warum sie mit ihm zusammen war. Wer hält es schon mit einem Choleriker aus? Einmal vor vielen Jahren hatte sie gesagt, sie würde mich beneiden. Weil ich frei wäre. Ich könnte tun und lassen, wozu ich Lust hätte. Aber Mama, habe ich gesagt, es ist doch noch nicht zu spät für dich. Doch, sie war der Ansicht, für sie und für ein eigenständiges Leben wäre es zu spät. Vielleicht hat sie deswegen hier alles konserviert, war am Ende auf ihren Mann angewiesen. Der sie abgeschottet hat. Der sie im Haus an die lange Leine gelegt hat.
Es ist dunkel geworden. Mutter ist schon lange fort. Fort aus diesem Zimmer, fort aus meinem Leben nun auch. Mögest du in Frieden sein, wo immer du bist Mama.
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