Dieses Datum weckt unterschiedliche Gefühle in mir. Ich bin 1955 in Ost-Berlin geboren und dort auch erwachsen geworden. 1981 habe ich die DDR dann verlassen. Der 9. November ist in meiner Erinnerung als erstes mit den Geschichten verknüpft, die meine Großeltern über diese Nacht im Jahr 1938 erzählt haben. Über die Kristallnaach - wie sie 1982 in einem Song der Gruppe BAP genannt wurde, zu dem ich in den wilden 80ern in einem berüchtigten Club in Kreuzberg getanzt habe. Ich weiß nicht, ob das heute noch erlaubt wäre.
Meine Großeltern lebten in den 30er Jahren mitten im Prenzlauer Berg, in der Nähe des Wasserturms. Sie hatten einen jüdischen Hausarzt – er hatte die große Schwester meiner Mutter vor dem Erstickungstod gerettet –, sie kauften in jüdischen Geschäften. Mein Großvater arbeitete als Drucker bei Ullstein – was ihm später zu DDR-Zeiten eine winzige West-Rente bescherte – und war Anfang der 30er Jahre schon in den Tiergarten gefahren, um Ernst Thälmann zu hören. Mein Großvater war kein Kommunist, aber er wusste instinktiv, dass Thälmann Recht hatte. „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“
Meine Großeltern waren keine Nazis, nicht einmal Mitläufer. Auch wenn sie nichts Genaues wussten, über die Lager der Nazis wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. Und doch waren sie in jener Nacht entsetzt über die so offen zu Tage tretende Barbarei ihrer Nachbarn, die in der von den Nazis aufgeheizten Stimmung nicht nur Kristall zerschlugen, sondern Menschen. Vielleicht war die Beschämung über dieses Geschehen der Grund dafür, dass sie später zusammen mit allen Nachbarn ihres Mietshauses im Dach Juden versteckten, die sich zur Deportation melden sollten.
Darüber haben sie allerdings nie gesprochen. Vielleicht aus Schmerz. Ich vermute, sie haben es nie verwunden, dass die Familie am Ende doch deportiert und ermordet wurde. Jemand hatte das Versteck verraten. Als ich 1998 nach Israel flog, erzählte mir meine Mutter kurz vor meiner Reise davon. Ich habe in später Anerkennung dort einen Baum für meine Großeltern gepflanzt.
Mein Großvater nahm seine Erlebnisse in der Zeit der Naziherrschaft zum Anlass, mir in den 60ern den Weg zu den Pionieren zu versperren. Er verbot es ganz einfach. Da ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin, konnte er das. Seine Argumente überzeugten mich nicht. Ja. Er hatte das alles schon einmal gesehen bei den Pimpfen, beim Jungvolk, und die Mauer war ein Unrecht, das spürte selbst ich als Kind, aber ich wäre gern Pionier geworden, ich wollte dazugehören.
Drei Jahre später durfte ich dann. Meine Mutter hatte für das Kind (für mich) Großes vorgesehen. Dazu gehörte ein Einser-Abitur, die FDJ, und dafür musste ich zuerst Pionier werden. Aber das sind andere Geschichten, zu denen auch die dunkle Seite meines Großvaters gehört.
Und dann ist da dieser andere 9. November. Ein Freudentag in meiner Erinnerung. Ich hatte die DDR ja verlassen, weil ich weder daran geglaubt hatte, dass sie reformierbar wäre, noch hatte ich die Hoffnung, die Mauer könnte jemals fallen. Und dann die Überraschung. Natürlich hatte ich die großen Demonstrationen mitbekommen, hatte vom Neuen Forum gehört. Aber noch immer dachte ich, dass die DDR-Führung ihren Bürgern ein paar Erleichterungen bieten würde, mehr aber nicht. Die Aufregung um Günter Schabowskis Aussagen zur Reisefreiheit hatte ich verschlafen.
Gerade mal zwei Monate zuvor war ich nach acht Jahren Einreiseverbot in die DDR das erste Mal wieder in Ost-Berlin gewesen und hatte alte Freunde besucht. Und nun klingelte es mitten in der Nacht an der Haustür und genau diese Freunde behaupteten, sie wären es, die da unten vor meiner Tür stünden. Ich weiß nicht, ob sich jemand meine Verblüffung vorstellen kann. Ein Westler hatte das Paar am Grenzübergang Bornholmer Straße in sein Auto geladen und zu mir nach Neukölln gefahren.
So etwas passierte in dieser Nacht ständig. Fremde fuhren Fremde wohin auch immer sie wollten, man umarmte und freute sich, feierte gemeinsam. Nie wieder habe ich so viele Sekt- und Weinflaschen gesehen, die aus fahrenden Autos in die Luft gestreckt wurden.
Mit einem anderen Auto, einem anderen Fahrer, der neben uns hielt und fragte, ob wir irgendwohin wollten, sind wir zum Checkpoint Charly gefahren, haben in der Menge Sekt getrunken und versucht, einem BBC Reporter ein Interview zu geben. Aber weder meinen Freunden noch mir wollten ein paar englische Sätze einfallen. Da traf es sich gut, dass mein damaliger Freund das Dolmetschen für uns übernahm. Ein Wessi. Der nicht ganz so durcheinander war wie wir.
Der Rest ist schnell erzählt. Die Euphorie hielt zwei oder drei Tage. Dann hatten sich die West-Berliner an den Anblick der Trabbis auf den Straßen und an die Frauen mit den komischen Dauerwellen, die Männer mit den hässlichen Schuhen gewöhnt. Dann hörte ich morgens im Bus erste Sätze wie „Die kaufen uns alles weg. Gestern gab es im Supermarkt keine Milch mehr.“ Fake News würde man heute sagen. Milch gab es im Osten.
Ich war froh, dass ich meinen Landsleuten acht Jahre voraus war. Ich hatte mich an den Westen gewöhnt. Nicht so gewöhnt, dass ich unkritisch gewesen wäre. Im Herzen konnte ich dem Kapitalismus nicht viel abgewinnen. Warum sollte das Geld auf dem Konto Auskunft geben über den Wert eines Menschen?
Ich hatte die DDR verlassen, weil ich es hasse, wenn man mir vorschreiben will, wohin ich reise, was ich lesen oder wie ich denken soll. Das habe ich mir bis heute erhalten. Wenn jemand in meiner Nähe die DDR zu heftig kritisierte, nahm ich sie in Schutz. ‚Geh doch wieder rüber‘, hieß es manches Mal. Wenn jemand das politische Geschehen dort verharmloste, zog ich vom Leder. Ich war in mir selbst lange Zeit gespalten. Wer bin ich oder was? Ossi? Wessi? Oder Wossi, wie ich es einige Jahre lang formulierte?
Ich begann, mich für meine Landsleute zu schämen. Eine psychologisch erklärbare Reaktion. Auf die ich nicht stolz bin. Wie gierig sie nach den 100 Mark Begrüßungsgeld waren. Wie naiv und kindlich in ihrer Freude. Wie leicht sie sich von findigen Westlern über den Tisch ziehen ließen. Was hat man ihnen nicht alles angedreht. Alte Autos. Versicherungen.
Ein paar Monate später gab es die ersten Ostler in meiner Firma. Meine Mutter, die mit ihrem Mann in Ost-Berlin bei Bergmann-Borsig angestellt war, wurde mit 55 in den Vorruhestand geschickt. Sie hatte immer gerne gearbeitet. Mein Stiefvater machte sich mit Kollegen zusammen selbstständig und projektierte für einen reichen Hamburger Steuerberater ein Haus in der Friedrichstraße. Bezahlt hat der reiche Wessi nie.
Ich erinnere mich, wie peinlich berührt ich war, als mein Stiefvater später erzählte, er hätte sich bei Aldi beworben. Er wurde nicht einmal zu einem Einstellungsgespräch eingeladen. Ein Diplom-Ingenieur an der Kasse? Auch die anderen 48 Firmen ignorierten seine Bewerbungen. Ein Bandscheibenvorfall (wundert es jemanden?) brachte ihm am Ende die Frühberentung.
Das sind Einzelschicksale, die traurig sind, werden manche sagen. Ich halte sie für symptomatisch für die politische Übernahme der DDR durch die BRD, wie es der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Ich teile viele seiner folgenden Überlegungen nicht, aber die Beschreibung über das Ausmaß der Gemeinheiten, die mit der „Wiedervereinigung“ einhergegangen sind, hat mich beim Lesen sehr erschüttert. (Für weiteres Interesse lohnenswert: Daniela Dahn: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“)
Meinen Frieden mit der DDR habe ich 2010 gemacht. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, die ja nicht einfach so umgekippt ist, hatte ich einen kleinen Schreibauftrag für einen Fotoband über die „Gesichter der Friedlichen Revolution“. Ich traf Menschen, die sich lange vor den großen Demonstrationen in der DDR politisch engagiert hatten. Einige von ihnen waren schon in den 70er Jahren in Kirchenkreisen, in der Frauen- und Friedensbewegung, in Umweltbibliotheken und in der alternativen Kunstszene aktiv. Sie hatten den Wehrdienst verweigert, drohende Haftstrafen in Kauf genommen, sind aufgrund ihres Einsatzes tatsächlich inhaftiert worden. Das hatte es also alles schon gegeben, als ich noch in der DDR lebte. Aber ich kannte damals keine politischen Aktivisten, kannte eher Menschen wie mich, die vorhatten, die DDR zu verlassen.
In manchen dieser Gespräche dachte ich: Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Aber hätte hätte. Dann hat es noch ein paar weitere Jahre gedauert, in denen ich Bücher las, mit bis heute engagierten Friedensaktivisten sprach, bis mir die Antwort auf die Frage, woher ich komme, ganz leicht über die Zunge kam: Ich bin eine Ostfrau.
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