Dienstag, 16. März 2021

Tag 26 ohne Alkohol und Zucker

Während ich in den Tagen nach Mutters Beerdigung noch darüber nachgedacht habe, wofür ich denn nun frei bin - das war die letzte Botschaft - fing ich mit den kleinen Wanderungen an. Seitdem laufe ich 4- oder 5mal die Woche täglich zwischen 10 und 12 Kilometern. Dafür suche ich nach schönen Orten in der Nähe unseres Hauses, zu denen ich vorher noch nie gelaufen bin. Gerade der Südwesten Berlins hat da einiges zu bieten. Ich laufe durch den Wald, an Seen entlang, raste, wo es mir gefällt, sitze ein oder zwei Stunden an einen Baum gelehnt und mache nichts weiter als zu schauen. Es kommt mir vor, als würde ich Kontakt aufnehmen zu dem, was mich umgibt. Oft sitze ich in der Nähe von abgestorbenen, gestürzten Bäumen, deren Anblick mich zu Tränen rührt. Auch sie sind Verletzte. Gezeichnete. Manchmal weine ich aber auch, weil die Schönheit der Natur mich anrührt. Der See, der vor mir im Sonnenlicht leuchtet. Die allerfeinsten Wassertropfen, die wie winzige Diamanten auf Blättern liegen. Das gleichmäßige Plätschern der Wellen an einem kleinen Strand, das einem geheimnisvollen Flüstern gleicht. Schaumkronen. Und weil es die Zeit vor Ostern ist, laufe ich nicht nur, ich verzichte auch auf Zucker und Alkohol. 

Gerade heute ist mir aufgefallen, dass sich in meinem Inneren etwas verändert hat. Da, wo sonst oft ein Durcheinander an Gedanken und Gefühlen ist, herrscht plötzlich Klarheit. Ich sehe mein Leben, meine Lebensumstände ohne Sentimentalität. Ich bin 65 Jahre alt, lebe mit einer Unterbrechung von 5 Jahren jetzt schon seit 23 Jahren in dieser WG, in diesem Haus, was mir mal mehr, mal weniger gefällt, aber eigentlich befinde ich mich schon seit einer Weile in einem Zustand der Stagnation, den ich Vegetieren nenne. Der mir sonst nur nicht auffällt, weil 1. viele Menschen so leben, es scheint natürlich zu sein, und weil ich mich 2. ablenke. Ich schreibe, treffe Freunde, kümmere mich um WG-Angelegenheiten, sehe mir auf Mediatheken Filme an, die mich für kurze Zeit in eine andere Welt versetzen. 

Ich liebe Dokumentationen über andere Regionen, andere Länder, über das Essen, das Kochen in anderen Ländern, über Menschen, die dort ganz anders leben in diesen anderen Ländern, und bei jeder neuen Dokumentation denke ich, da will ich auch hin, so möchte ich auch leben. Stattdessen bleibe ich, wo ich bin. Wo ich nun schon so lange bin. Aber verdammt noch mal, das ist nicht der Sinn des Lebens. Meiner jedenfalls besteht nicht darin, anderen Menschen beim Leben zuzusehen. Andererseits kann ich auch nicht ständig durch die Gegend fahren, nur weil ich gerade eine interessante Dokumentation gesehen habe. Oder doch? 

Ich erinnere mich an die Zeit vor fünf Jahren, auch damals war ein wichtiger Mensch gestorben. Anidana, Freund und Hauptmieter. Sein Tod hatte mir deutlich gemacht, dass ich meine Träume nicht aufschieben sollte. Darüber sprechen Psychologen, Coachs, Kranke oder Sterbende. Und natürlich weiß auch ich, dass es manchmal zu spät sein kann, Dinge zu tun, die man schon immer tun wollte. Aber es ist etwas Anderes, wenn man diese Erkenntnis an einem echten Menschen demonstriert bekommt. Wenn es einem sozusagen vor die Nase gehalten wird. Sieh dir das an. Dieser Mann wollte weniger arbeiten - er war 76 und immer noch einer der begehrtesten Grabredner seiner Branche - er wollte ein Buch schreiben, und er wollte vielleicht in einer Sannyasin-Kommune leben. Auf Korfu oder in einer der größten Kommunen in Niedersachsen. Stattdessen hatte er sich von dieser Welt verabschiedet. Mach dir keine Sorgen, hatte er mir zum Abschied gesagt, wahrscheinlich nicht wissend, dass dies seine letzten Worte für mich waren. Natürlich habe ich mir nach seinem Tod erst recht Sorgen gemacht. So schnell geht das also manchmal. Dann habe ich darüber nachgedacht, was ich immer schon tun wollte, aber nie gemacht habe. Reisen. Ich wollte durch Europa reisen. Am liebsten mit einem Auto. Aber 1. habe ich kein Auto, 2. nicht mal eine Fahrerlaubnis, und 3. hatte ich kein Geld. Damals bekam ich noch keine Rente, sondern zusätzlich zu einem kleinen Job in der Buchhaltung ergänzende Leistungen vom Jobcenter. Aber eigentlich, in meinen geheimsten Überlegungen, träumte ich von einer Heimat. Von einem neuen Zuhause, einem anderen Leben. Von einem Ort, an dem ich am Ende bleiben könnte, weil meine Seele ihn ausgesucht hatte. Sie würde mir zeigen, wo ich Ruhe, Frieden, mein Glück finde. Dafür bräuchte ich nur ausreichend Möglichkeiten, mich in Europa, in der Welt umzusehen. Das Thema Heimatsuche verfolgt mich schon so lange. Und obwohl ich mir fast sicher war, dass ich diese Heimat auch beim Reisen nicht finden würde, hatte ich angefangen, mich über Möglichkeiten zu informieren, die meinen Traum in die Realität bringen könnten. Bei meinen Recherchen bin ich auf ein Portal gestoßen, das arbeitswillige Personen an Privatmenschen oder auch Organisationen vermittelt, die im Austausch gegen Kost und Logis täglich ein paar Stunden mit anpacken. Im Feld, in einer Kooperative, einer Pension, einem Hotel. Auf dem Land, in der Stadt. In Deutschland, in Europa, der Welt.

Jeder neue Ort, den ich anklickte, ließ neue Bilder in mir aufsteigen. Ein Dorf in der Uckermark. Eine Pension in Süd-Italien. Eine Kooperative in Ungarn. Ein Hostel in Jerusalem. Ein Dorf in karger Landschaft auf den Golanhöhen. Das hatte es mir ganz besonders angetan. Dort suchte ein japanischer Papiermacher Menschen, die ihm beim Papiermachen helfen. Nach getaner Arbeit würde ich mit den jungen Menschen, die dort ebenfalls leben und arbeiten, zusammen essen. Sie würden später an einem Lagerfeuer sitzen, internationale Lieder singen, leise, aus Respekt vor der Landschaft, den schlafenden Kindern, während ich mit einem leichten Schal um die Schultern einen Hügel besteigen würde. Ich würde auf die wenigen flachen Sträucher achten, und oben angekommen, würde ich mich auf die Decke legen, die ich wie den Schal bei mir trage, und dann würde ich still werden. Würde bewegungslos in den atemberaubenden Himmel schauen, in dem die Sterne so zahlreich flimmern und sirren, mir Nachrichten schicken, mich beruhigen und als einer der ihren erkennen. Ein Stern spricht zu einem anderen. Vom vielen Schauen und reden erschöpft - auch telepathisches Kommunizieren braucht Energie - würde ich einschlafen. Erst die Kühle der Morgendämmerung würde mich wecken, und dann läge wieder ein Tag mit diesem ruhigen, sich seiner Arbeit widmenden Japaner vor mir. Meine Tage hätten einen Sinn. Ich, die schreibende, erschaffe Papier, so zart und durchscheinend wie das feinste Pergament, damit die Maler ihre geheimnisvollen Zeichen darauf hinterlassen können. 

So dachte ich damals, oder so denke ich heute, was spielt das für eine Rolle. Ich bin nicht zu den Golanhöhen gefahren. Ich habe meine Heimat nicht gefunden. Vielleicht ist Heimat auch das falsche Wort für das, wonach ich mich sehne. Mein Leben lang, vielleicht auch nur mein halbes Leben lang, dachte ich, es ginge in der mir zur Verfügung stehenden Zeit auf Erden darum, den Sinn für meine Anwesenheit herauszufinden. Warum bin ich da? Was soll ich tun? Was ist meine Aufgabe? Man könnte sagen, dass ich viel Zeit für diese Suche aufgebracht habe. Zehn Jahre mindestens. Ich besuchte Kurse, Workshops, las mich durch den esoterischen Buchladen einer Freundin, reduzierte sogar meinen Job auf 30 Stunden, damit ich zweimal in der Woche in diesem Buchladen arbeiten konnte, um so regelmäßigen Zugang zu meinen Drogen, den esoterischen Büchern zu erhalten. Immer auf der Suche nach einer Lösung für die Frage nach dem Warum. 

Heute kommen mir diese Jahre vor, als hätte ich sie im Rausch verbracht. Jetzt, 20 Jahre später, längst eine jener Abtrünnigen, die Esoteriker milde belächeln, fällt mir plötzlich auf, dass ich nicht länger wissen will, warum ich hier bin. Ich bin 65, jetzt will ich wissen, warum ich bleiben soll. Manchmal bin ich so müde. Dann fühle ich mich 20 Jahre älter, als ich tatsächlich bin. Kraft- und energielos. Der Körper schmerzt, nach einer Stunde Laufen schleppe ich mich mühsam nach Hause. Doch es gibt auch andere Momente, in denen ich plötzlich und unverhofft von einer Welle des Glücks getroffen werde. Momente, in denen ich mich zeit- und alterslos fühle, in denen ich sprudle und leuchte, jedenfalls kommt es mir so vor. Und auch wenn diese Momente meist nicht lange anhalten, ein paar Minuten nur, eine Viertelstunde vielleicht, einmal allerdings hielten sie sich sechs Stunden lang - ein Moment, den ich nie vergessen werde - vielleicht sind sie der Grund für mein Hiersein. Aber genügt das? Sollte nicht noch etwas passieren, bevor ich abberufen werde?

Kalt und sonnig

Wie anders die Welt gleich aussieht. Wie anders ich mich fühle. Wie beschwingt ich gestern erneut zum Butterbaum gelaufen bin. Wie anders da...