Donnerstag, 31. Dezember 2020

Es dauert eine Weile, bis ich mich sortiert habe

Kaffee würde helfen, aber da ich keinen finde, mache ich mir einen Cappuccino aus der Tüte. Der Stiefvater hat mir einen rosafarbenen flauschigen Bademantel gegeben, der meiner Mutter viel zu groß gewesen sein muss. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein rosa Elefant. Immer wieder muss ich weinen. Mein Vater ist seit zwölf Jahren tot, meine Mutter ist gestern gestorben, mein Sohn möchte nichts von mir wissen. Jetzt bin ich so mutterseelenallein, wie ich mich morgens um drei fühle, wenn ich aus dem Schlaf schrecke und nicht wieder einschlafen kann. 

Freunde haben mir liebevoll geschrieben, haben ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht. Sie wissen, wie es hier um mich steht. Sie wissen von dem schwierigen Stand, den ich in dieser Familie hatte, sie wissen, ohne dass ich es ihnen mitteilen muss, wie ich mich fühle. Der Stiefvater läuft im Haus herum, schaut kurz in die Küche. "Was machst du da? Tagebuch?" Er erwartet keine Antwort. Das ist normal. Andere Menschen interessieren ihn, wenn sie etwas Herausragendes geleistet haben oder ihm in irgendeiner Weise nützlich sein können. Nicht nur im Gästezimmer tickt ein Wecker, hier ticken überall Uhren. Tick. Tick. Tick. Wie hat meine Mutter das ausgehalten? Der Stiefvater hört schlecht, ihn wird es also nicht stören. Für die vielen Plastikblumen und Deckchen - auf den Couch- und Sessellehnen, auf jedem freien Platz eigentlich - war meine Mutter verantwortlich. Sie liebte diesen Stil.

Der Stiefvater scheint mir gefasst zu sein. Manchmal weint er. Immer wenn ihm einfällt, dass er nun alleine ist. Dass er sein Leben zukünftig ohne meine Mutter - seine liebe Frau, wie er immer wieder sagt - organisieren muss. Trotzdem denkt er auch an die Dinge, die zu erledigen sind. Gleich nach dem Frühstück ruft er die nächsten Verwandten und Freunde an, um die traurige Nachricht zu übermitteln. Immer wieder höre ich, wie er sagt, ja, ja, die Tochter ist da. Die Tochter. Das bin ich. Nicht seine, nicht ihre gemeinsame, die Tochter eben. Er hat einen Bekannten aus DDR-Zeiten, der heute Bestatter in Pankow ist. Dieser Mann hatte schon die Mutter des Stiefvaters unter die Erde gebracht, nun soll er sich auch um die Beerdigung meiner Mutter kümmern. Der Mann kommt mittags, ich weiß schon nach einer Stunde nicht mehr, worüber genau geredet wurde. Er wird sich um alles kümmern, das ist das Wichtigste. 2300 Euro wird die Bestattung kosten, das findet der Stiefvater so preiswert, dass er seiner Freude laut Ausdruck verleiht. Er hatte mit 6000 oder 7000 Euro gerechnet, sagt er immer wieder staunend. 

Während er Unterlagen meiner Mutter sucht, findet er eine Kiste mit Fotos, die ich mir ansehen darf. Ich habe schon nach Papieren gefragt, die aus der Zeit vor ihrer Ehe stammen - da ist noch diese kleine Hoffnung, etwas darüber zu erfahren, warum ich von meiner Geburt an im Heim war und ob sie mich eigentlich zur Adoption freigeben wollte - aber angeblich gibt es so etwas nicht. Die Fotos in der Kiste habe ich noch nie zuvor gesehen. Auf den meisten ist meine schöne junge Mutter zu sehen, in die ich mich sofort verliebe. Es ist ein plötzliches Erkennen. Da ist eine, der ich mich nah fühlen, die ich verstehen könnte. 

Auch eine Pfarrerin ruft der Stiefvater an, sie verabreden einen Termin. Warum soll denn eine Pfarrerin sprechen? Meine Mutter glaubte nicht an Gott. Der Stiefvater wird wütend, als ich mit ihm darüber rede. Ich hätte keine Ahnung, natürlich hätte meine Mutter an Gott geglaubt, sie wäre schließlich immer mit ihm zu den Gesprächskreisen, an hohen Feiertagen auch in die Kirche gegangen. Als würde das irgendetwas über den Glauben eines Menschen aussagen. 

Heute ist der letzte Tag des Jahres. Der Stiefvater würde ihn gern mit einem Glas Sekt ausklingen lassen, so hat er das immer mit meiner Mutter gemacht. Er ist empört, als ich ihm sage, dass ich mich frühzeitig hinlegen werde. Immerhin habe ich kaum geschlafen heute Nacht, ich bin so müde, dass ich mir nicht vorstellen kann, bis Mitternacht wach zu bleiben. Sofort wird er wütend. Auch ein bisschen lauter. Choleriker eben. Was ich mir dabei denke. So ginge das nicht. Es ist wie früher, er hat kein Gefühl für die Wünsche oder Bedürfnisse eines anderen Menschen. Es wird so gemacht, wie man das eben macht. Es gibt schließlich gewisse Normen. Dazu gehört, dass Silvester gemeinsam ein Glas Sekt getrunken wird, egal, ob gerade ein wichtiger Mensch gestorben ist oder nicht. 

Am Abend muss ich mich bewegen. Ich halte es nicht länger aus in dem Haus mit den tickenden Uhren. Ich brauche eine Auszeit, und wenn sie noch so klein ist. Ich will einmal um das Karree gehen und hoffe, dass ich die richtigen Abzweigungen finde. Was mir natürlich nicht gelingt. Selbst innerhalb dieser kleinen Siedlung verlaufe ich mich. Aber das kann auch daran liegen, dass ich noch einmal mit dem Freund telefoniere. Ich kann mich nicht gleichzeitig auf ein Gespräch und auf den Weg konzentrieren. Wie gut, dass es den Taxifahrer gibt. Jetzt in dieser Situation möchte ich seine Stimme hören, möchte mich verstanden und gewärmt fühlen. Fragen möchte ich keine beantworten, es geht mir nur um diese Verbindung. Und erstaunlicherweise verbindet mich etwas mit diesem Mann, mit dem ich keine Beziehung leben kann. Mit diesem halben Asperger/Autisten, wie er sich selbst gelegentlich nennt. Er weiß, wer er ist. Jetzt hier, in dieser Situation fühlt es sich an, als wäre er mein Mann, und dieser Gedanke rührt mich so sehr, dass ich gleich wieder weine. Es stimmt schon. Wenn ein Mensch gestorben ist, weint man vor allem um sich selbst. Um die eigenen Schmerzen, die eigenen Verlassenheitsgefühle, die eigenen Dramen. 

Obwohl ich tatsächlich um neun im Bett liege, stehe ich um elf wieder auf. Ich bringe es nicht übers Herz, dem Stiefvater den Wunsch nach Gesellschaft in diesen Stunden, an diesem Abend zu verweigern. Auf dem Briefkasten vor der Gartentür steht jetzt ein zweites Teelicht, das haben Nachbarn gebracht. Sie alle haben meine Mutter gemocht, ich weiß. Meine Mutter ist tot. Sehr tot.


 

Mittwoch, 30. Dezember 2020

Im Traum bin ich auf einer Veranstaltung mit Menschen,

die alle in der Pflege arbeiten. Ein Attentäter hat angekündigt, viele von ihnen umzubringen. Er will sie explodieren lassen. Dass er dazu in der Lage ist, hat er schon demonstriert. Per Fernbedienung hat er bei einigen Menschen Implantate aktiviert, die eine Tür zum Herzen öffnen. Wir alle haben die Geräusche gehört, nicht nur die Betroffenen. Es klingt so, als würde ein Riegel aufgeschoben, dann noch einer, noch einer, immer weiter. Diese Menschen können nun allerdings nicht mehr in die Luft gesprengt werden. Dann treffe ich den Mann im blauen Anzug. So nenne ich Jens Spahn im Traum. Wir umarmen uns, bleiben länger in der Umarmung. Er sagt oh, ich denke oho, wir küssen uns. Er ist zärtlich und liebevoll. Dann will er wissen, wie es jetzt mit uns weitergeht. Ich sage ihm, dass ich zukünftig wohlwollender über ihn denken und reden werde. Jetzt, wo ich weiß, wie gut er sich anfühlt. Witzig. Ich habe nicht vor, mich mit jemanden über Jens Spahn zu unterhalten. 

Am Nachmittag telefoniere ich mit Goloka. Ich habe kein konkretes Anliegen, erzähle von den letzten Wochen, von den Halsschmerzen, die mir die Lesungen beschert haben, die ich für das Projekt "Lesen zwischen den Jahren" für das Internet-Radio aufgenommen habe. Dieses Gespräch ist Teil meines Jahresend-Rituals. Alte Tagebücher lesen, noch einmal mit Goloka reden, Mails schreiben, und am Silvesterabend ganz allein eine Flasche Crémant am Kamin trinken. So habe ich mir das jedenfalls vorgestellt. Der Hausmann ist am Bodensee, unser Jüngster ist mit seiner Freundin zu seiner Familie gefahren, die anderen sehe ich nur gelegentlich auf der Treppe oder in der Küche. Seitdem Corona in unserem Leben eine so große Rolle spielt - eine so große Rolle spielen soll - seit die Inzidenzen wie Börsenkurse herausgebrüllt werden, sind meine Mitbewohner sehr vorsichtig. Nähe ist plötzlich gefährlich. Weder möchte man einen anderen anstecken, noch möchte man sich selber bei einem anderen anstecken. Ich weiß nicht genau, was ich von all dem halten soll. Anfangs hatte ich wie alle anderen Angst, ich fürchtete, Menschen würden auf der Straße, in der Bahn neben mir tot zusammenbrechen. Aber eine zarte kleine Stimme in mir sagt auch, hey, spüre in dich hinein, ist das tatsächlich stimmig, was sie da erzählen? Lass dich nicht verrückt machen. 

Eine halbe Stunde nach dem Telefonat mit Goloka meldet sich mein Handy. Mein Stiefvater. Meine Mutter ist im Krankenhaus. Es sähe schlecht aus, sagt er. Sie wäre gestürzt, hätte sich den Kopf aufgeschlagen, wollte aber unter keinen Umständen ins Krankenhaus. Er hätte ihr noch einen Kaffee gebracht, später sei sie dann plötzlich nicht mehr ansprechbar gewesen. Er ist aufgeregt und sagt immer wieder, wie sehr es ihm leid tut. Wenn ich meine Mutter noch einmal sehen möchte, dann soll ich nach Buch kommen und mich dort in der 1. Hilfe melden. Er verschweigt mir, dass meine Mutter bereits gestorben ist. 

Ich mache das, was ich in solchen Situationen schon häufig getan habe. Ich rufe meinen Freund, den Taxifahrer an. Er weiß, was in Krisen zu tun ist, und um eine Krise handelt es sich wohl. Dabei ist mir gar nicht klar, was genau ich von ihm erwarte. Jedenfalls nicht im ersten Moment. Da frage ich ihn nur, was eine Fahrt von Nikolassee nach Buch kosten würde, da ich mir nicht vorstellen kann, jetzt in eine S-Bahn, einen Bus zu steigen, zumal das viel zu lange dauern würde. Sofort bietet er an, mich zu fahren. Doch das will ich gar nicht. Ich glaube, ich habe ihn nur angerufen, damit er mir dieses Angebot macht. Es hilft mir zu wissen, dass da jemand ist, der für mich da ist, wenn ich Hilfe brauche. 

Der Fahrer von "Berlin-Taxi" kann sein Glück gar nicht fassen. Eine solche Fahrt, so unverhofft, ich kann spüren, wie er sich freut. Ein herzlicher aufmerksamer Mann, ich rücke auch gleich damit heraus, wohin ich unterwegs bin. Schon nach wenigen Minuten habe ich das Gefühl, wir würden uns seit langem kennen. Er erzählt mir vom Tod seiner Mutter, seines Bruders, manchmal lachen wir, und als wir nach 40 Minuten da sind, würde ich am liebsten bei ihm im Auto sitzen bleiben. Er möchte auf mich warten, aber das kann ich ihm ausreden. Ich weiß schließlich nicht, was mich erwartet. Die Fahrt kostet 70 Euro, das ist eine ordentliche Summe, aber der Stiefvater hat gesagt, dass er es mir zurückgibt. Er weiß, dass ich mit wenig Geld lebe. Und wenn er es mir nicht gibt, ist das auch in Ordnung. 

Es dauert eine Weile, bis ich bei meiner Mutter bin, das hat mit den Corona-Vorschriften zu tun. Niemand darf ohne ärztliche oder andere Begleitung das Haus betreten. Die junge Ärztin, die mich nach einer Weile abholt, spricht mir ihr Beileid aus. Ich komme also zu spät. Ich bin zu spät gekommen. Ob sie etwas von meinem Sohn weiß? Er wurde benachrichtigt, ist aber noch unterwegs. Meine Mutter liegt klein und zart in einem viel zu großen Bett. Sie ist kalt und sehr tot. Ich spüre nichts mehr von ihr, von ihrer Lebendigkeit. Ihre Haare sind kurz, auch dünn, ihre Haut ist kühl und glatt. Immer wieder streiche ich ihr über die Stirn, die Schläfe, die Hand. Eine letzte zärtliche Geste von mir für dich. Du bist so kalt Mama. Warum bist du so kalt? Später erinnere ich mich nur daran, dass ich diese beiden Sätze einige Male gesagt habe. 

Der Stiefvater wirkt einigermaßen gefasst. Er protestiert, als seine Nachbarin, die ihn ins Krankenhaus begleitet hat, uns beide am Totenbett allein lassen will. Ist doch nicht nötig, sagt er. Ich bin froh, dass sie trotzdem vor die Tür geht. Ich bin auch froh, dass ich vor einer Woche noch mit meiner Mutter telefoniert habe. Gesehen haben wir uns länger nicht, aber in den letzten zwei Jahren habe ich sie immerhin alle paar Monate angerufen. Alle halbe Jahre vielleicht, ich weiß es nicht. Das spielt jetzt in diesem Augenblick auch keine Rolle mehr. 

Nach einer Stunde ist die Polizei da. Bei einem Unfall ist das immer so. Der Chef-Beamte lässt keinen Zweifel daran, dass er selbstverständlich nicht glaubt, der Stiefvater könne etwas mit Mutters Tod zu tun haben. Und ich, ich sage nicht, dass ich es schon ein wenig eigenartig finde, dass er mir am Telefon nicht nur verschwiegen hat, dass meine Mutter schon tot ist, sondern dass er auch geweint und immer wieder beteuert hatte, wie leid es ihm täte. Was tut ihm denn leid? Aber ich bin schon konfus genug, da muss ich nicht für weitere Konfusionen sorgen. 

Inzwischen ist auch mein Sohn gekommen. Ich glaube, er ist noch konfuser als ich. Er geht mit seiner Partnerin in das Totenzimmer. Obwohl ich in einer Stresssituation bin, gelingt es mir, mich gleichzeitig zu beobachten. Was fühle ich? Wie wirkt das Ganze auf mich? Ich beobachte, dass es mir fast das Herz bricht, meinen Sohn zu sehen. Diesen Sohn, der seit Jahren keinen Kontakt zu mir hat, der mich nicht anruft, mich nicht zurückruft, wenn ich ihn anrufe. Der mir aus dem Weg geht, es sei denn, ich hätte Weihnachten meine Mutter besucht, da hätte ich ihn sehen können. Er hat sich auf ihre Seite geschlagen, was nicht nötig gewesen wäre, da ich nicht erwartet habe, dass er zu mir hält oder gar seiner Oma aus dem Weg geht. Ich bin die Böse, meine Mutter ist, nein, meine Mutter war die Gute. Aber das alles ist ohne Bedeutung, weil sein Anblick Gefühle in mir auslöst, die ich so nicht erwartet habe. Ich möchte ihn berühren, in den Arm nehmen, möchte ihn beschützen, und weil ihn das im Moment glücklich machen würde, möchte ich ganz allein für ihn meine Mutter wieder zum Leben erwecken. Stattdessen sehe ich ihn nur an und könnte auf der Stelle in Tränen ausbrechen. In mir ist so viel Liebe, dass es weh tut. Im gesamten Körper tut es weh, es ist, als würde ich jede einzelne Zelle schmerzlich spüren. Wie gut er aussieht. Er ist ein Mann geworden in den letzten Jahren. Ein sehr attraktiver. Geschmackvoll gekleidet. Ich denke an den alten Mantel, den ich für die Fahrt ausgewählt habe, vermutlich sehe ich so abgerissen aus, wie ich mich gerade fühle. 

Die Nachbarin schlägt später vor, dass einer von uns den Stiefvater nach Hause begleitet. Er sollte jetzt nicht alleine sein. Mir ist der Gedanke zwar nicht gekommen, aber verkehrt wird es nicht sein. Er war so lange mit meiner Mutter zusammen, da wird es schmerzhaft für ihn sein, in das leere Haus zurückzukehren, noch dazu mit der Gewissheit, dass sie nie wieder da sein wird. Weil ich mich nicht vordrängeln möchte, weil ich nicht weiß, was mein Sohn sich wünscht, schlage ich vor, dass er mit zu seinem Großvater fahren könnte. Vielleicht denkt er ja, erst kümmere ich mich nicht um seine geliebten Großeltern, und jetzt tu ich so, als wäre ich fürsorglich. Ich weiß nicht, was er denkt. Der Stiefvater nimmt uns nach anfänglichem Sträuben die Entscheidung ab, er möchte, dass ich ihn begleite. 

Der restliche Abend verschwindet in einem diffusen Nebel. Ich bekomme Bettwäsche gereicht, einen Schlafanzug meiner Mutter, eine schlichte Reisezahnbürste. Tippe im Bett ein paar Nachrichten auf meinem Handy. Meine Mutter ist gestorben. Wahrscheinlich werde ich nicht schlafen können. Schon gar nicht mit diesem tickenden Wecker. Aber dann schlafe ich doch, wache nach einer halben Stunde allerdings wieder auf. Meine Mutter ist tot. Sie ist tot. Verdammt. Meine Mutter ist tot.

Kalt und sonnig

Wie anders die Welt gleich aussieht. Wie anders ich mich fühle. Wie beschwingt ich gestern erneut zum Butterbaum gelaufen bin. Wie anders da...