Kaffee würde helfen, aber da ich keinen finde, mache ich mir einen Cappuccino aus der Tüte. Der Stiefvater hat mir einen rosafarbenen flauschigen Bademantel gegeben, der meiner Mutter viel zu groß gewesen sein muss. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein rosa Elefant. Immer wieder muss ich weinen. Mein Vater ist seit zwölf Jahren tot, meine Mutter ist gestern gestorben, mein Sohn möchte nichts von mir wissen. Jetzt bin ich so mutterseelenallein, wie ich mich morgens um drei fühle, wenn ich aus dem Schlaf schrecke und nicht wieder einschlafen kann.
Freunde haben mir liebevoll geschrieben, haben ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht. Sie wissen, wie es hier um mich steht. Sie wissen von dem schwierigen Stand, den ich in dieser Familie hatte, sie wissen, ohne dass ich es ihnen mitteilen muss, wie ich mich fühle. Der Stiefvater läuft im Haus herum, schaut kurz in die Küche. "Was machst du da? Tagebuch?" Er erwartet keine Antwort. Das ist normal. Andere Menschen interessieren ihn, wenn sie etwas Herausragendes geleistet haben oder ihm in irgendeiner Weise nützlich sein können. Nicht nur im Gästezimmer tickt ein Wecker, hier ticken überall Uhren. Tick. Tick. Tick. Wie hat meine Mutter das ausgehalten? Der Stiefvater hört schlecht, ihn wird es also nicht stören. Für die vielen Plastikblumen und Deckchen - auf den Couch- und Sessellehnen, auf jedem freien Platz eigentlich - war meine Mutter verantwortlich. Sie liebte diesen Stil.
Der Stiefvater scheint mir gefasst zu sein. Manchmal weint er. Immer wenn ihm einfällt, dass er nun alleine ist. Dass er sein Leben zukünftig ohne meine Mutter - seine liebe Frau, wie er immer wieder sagt - organisieren muss. Trotzdem denkt er auch an die Dinge, die zu erledigen sind. Gleich nach dem Frühstück ruft er die nächsten Verwandten und Freunde an, um die traurige Nachricht zu übermitteln. Immer wieder höre ich, wie er sagt, ja, ja, die Tochter ist da. Die Tochter. Das bin ich. Nicht seine, nicht ihre gemeinsame, die Tochter eben. Er hat einen Bekannten aus DDR-Zeiten, der heute Bestatter in Pankow ist. Dieser Mann hatte schon die Mutter des Stiefvaters unter die Erde gebracht, nun soll er sich auch um die Beerdigung meiner Mutter kümmern. Der Mann kommt mittags, ich weiß schon nach einer Stunde nicht mehr, worüber genau geredet wurde. Er wird sich um alles kümmern, das ist das Wichtigste. 2300 Euro wird die Bestattung kosten, das findet der Stiefvater so preiswert, dass er seiner Freude laut Ausdruck verleiht. Er hatte mit 6000 oder 7000 Euro gerechnet, sagt er immer wieder staunend.
Während er Unterlagen meiner Mutter sucht, findet er eine Kiste mit Fotos, die ich mir ansehen darf. Ich habe schon nach Papieren gefragt, die aus der Zeit vor ihrer Ehe stammen - da ist noch diese kleine Hoffnung, etwas darüber zu erfahren, warum ich von meiner Geburt an im Heim war und ob sie mich eigentlich zur Adoption freigeben wollte - aber angeblich gibt es so etwas nicht. Die Fotos in der Kiste habe ich noch nie zuvor gesehen. Auf den meisten ist meine schöne junge Mutter zu sehen, in die ich mich sofort verliebe. Es ist ein plötzliches Erkennen. Da ist eine, der ich mich nah fühlen, die ich verstehen könnte.
Auch eine Pfarrerin ruft der Stiefvater an, sie verabreden einen Termin. Warum soll denn eine Pfarrerin sprechen? Meine Mutter glaubte nicht an Gott. Der Stiefvater wird wütend, als ich mit ihm darüber rede. Ich hätte keine Ahnung, natürlich hätte meine Mutter an Gott geglaubt, sie wäre schließlich immer mit ihm zu den Gesprächskreisen, an hohen Feiertagen auch in die Kirche gegangen. Als würde das irgendetwas über den Glauben eines Menschen aussagen.
Heute ist der letzte Tag des Jahres. Der Stiefvater würde ihn gern mit einem Glas Sekt ausklingen lassen, so hat er das immer mit meiner Mutter gemacht. Er ist empört, als ich ihm sage, dass ich mich frühzeitig hinlegen werde. Immerhin habe ich kaum geschlafen heute Nacht, ich bin so müde, dass ich mir nicht vorstellen kann, bis Mitternacht wach zu bleiben. Sofort wird er wütend. Auch ein bisschen lauter. Choleriker eben. Was ich mir dabei denke. So ginge das nicht. Es ist wie früher, er hat kein Gefühl für die Wünsche oder Bedürfnisse eines anderen Menschen. Es wird so gemacht, wie man das eben macht. Es gibt schließlich gewisse Normen. Dazu gehört, dass Silvester gemeinsam ein Glas Sekt getrunken wird, egal, ob gerade ein wichtiger Mensch gestorben ist oder nicht.
Am Abend muss ich mich bewegen. Ich halte es nicht länger aus in dem Haus mit den tickenden Uhren. Ich brauche eine Auszeit, und wenn sie noch so klein ist. Ich will einmal um das Karree gehen und hoffe, dass ich die richtigen Abzweigungen finde. Was mir natürlich nicht gelingt. Selbst innerhalb dieser kleinen Siedlung verlaufe ich mich. Aber das kann auch daran liegen, dass ich noch einmal mit dem Freund telefoniere. Ich kann mich nicht gleichzeitig auf ein Gespräch und auf den Weg konzentrieren. Wie gut, dass es den Taxifahrer gibt. Jetzt in dieser Situation möchte ich seine Stimme hören, möchte mich verstanden und gewärmt fühlen. Fragen möchte ich keine beantworten, es geht mir nur um diese Verbindung. Und erstaunlicherweise verbindet mich etwas mit diesem Mann, mit dem ich keine Beziehung leben kann. Mit diesem halben Asperger/Autisten, wie er sich selbst gelegentlich nennt. Er weiß, wer er ist. Jetzt hier, in dieser Situation fühlt es sich an, als wäre er mein Mann, und dieser Gedanke rührt mich so sehr, dass ich gleich wieder weine. Es stimmt schon. Wenn ein Mensch gestorben ist, weint man vor allem um sich selbst. Um die eigenen Schmerzen, die eigenen Verlassenheitsgefühle, die eigenen Dramen.
Obwohl ich tatsächlich um neun im Bett liege, stehe ich um elf wieder auf. Ich bringe es nicht übers Herz, dem Stiefvater den Wunsch nach Gesellschaft in diesen Stunden, an diesem Abend zu verweigern. Auf dem Briefkasten vor der Gartentür steht jetzt ein zweites Teelicht, das haben Nachbarn gebracht. Sie alle haben meine Mutter gemocht, ich weiß. Meine Mutter ist tot. Sehr tot.