Meine Schulfreundin Regina, meine erste Freundin überhaupt, lebt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter nicht nur in einem richtigen Haus, sie hat auch ein eigenes Zimmer. Ein Luxus, von dem ich nicht einmal zu träumen wage, da es sicher ist, dass ich nie ein eigenes Zimmer haben werde, dass ich immer und ewig, jedenfalls bis ich erwachsen bin, mit meinen Großeltern in einem Zimmer leben muss.
Davon, dass ich später während der Sommermonate die Nachbarlaube nutzen darf, weiß ich zu dieser Zeit noch nichts. Aber ich beneide meine Freundin nicht nur um dieses eigene Zimmer, ich beneide sie auch um die Liebe ihrer Mutter, die so echt und gleichzeitig so unaufdringlich ist. Da wird beim Abschied gedrückt und geküsst, als wäre meine Freundin für ihre Mutter der wichtigste Mensch. Meine Mutter küsst nicht, davon verwischt der Lippenstift, den sie regelmäßig aufträgt.
Seit ich das einmal in der Gegenwart von Reginas Mutter erwähnt habe, bekomme ich auch manchmal einen Nimm2 morgens, einen der begehrten West-Bonbons.
Reginas Mutter näht. Eines Tages schenkt sie mir alte Modezeitschriften. Ich weiß nicht, ob ich danach gefragt habe, aber ich freue mich. Zu Hause fange ich sofort an, Frauen aus diesen Heften auszuschneiden, später auch Männer, Kinder, aber in den ersten Wochen nur Frauen.
Mit ihnen spiele ich wie mit den Papierpuppen, die ich auch noch habe, die mich aber ab sofort nicht mehr interessieren. Ich halte diese neuen Papierfrauen in der Hand, bewege sie über den Tisch, und wenn eine der Figuren sich umziehen soll, nehme ich einfach eine andere Frau in einem anderen Kleid.
Sie reden, lachen, weinen, haben ein Familienleben. Es ergeben sich Romanzen, aber auch dramatische Szenen. Anfangs spiele ich auf dem Küchentisch, der dafür leer sein muss, später baue ich Räume, ganze Häuser aus Büchern.
Im Winter wird diese Art der Beschäftigung geduldet, auch wenn meine Großeltern die Regelmäßigkeit und die Intensität meines Tuns befremdlich finden. „Warum macht sie das? Was ist mit ihr los?“ Ich höre und reagiere nämlich nicht, wenn ich spiele; auch beim Lesen ist das so. In diesen Momenten bin ich in einer anderen Realität, in einer, die ich in jedem Augenblick selbst erschaffe.
Die Geschichten in mir wollen heraus, ich bin mir sicher, dass diese Quelle nie versiegen wird.
Nach ungefähr zwei Jahren höre ich mit dem Spielen auf. Doch die Geschichten kommen weiterhin zu mir, nur spiele ich sie nicht mehr mit meinen Papierfiguren. Jetzt sehe ich sie vor dem Einschlafen wie einen Film vor meinem inneren Auge. Dabei bin ich Regisseurin und Dramaturgin in einer Person. Als erstes denke ich mir einen groben Plot aus (Wer soll was tun?), dann tauchen die Figuren auf, verschwinden wieder, ich höre die Dialoge, sehe den Fortgang meiner Geschichte, der mir nicht immer gefällt, dann muss ich von vorn anfangen.
Diese Filme vor dem Einschlafen sehe ich bis in meine Dreißiger hinein. Irgendwann finde ich diese „Phantasien“, wie ich sie nun nenne, allerdings albern. Vielleicht kommen deswegen keine neuen Filme mehr.
In einem meiner ersten längeren Texte schreibe ich über eine Frau, die sich Geschichten ausdenkt. Und als ich in den 90ern das erste Mal mit einer Drehbuchausbildung liebäugle, hat das mit diesen inneren Filmen zu tun, die mir wieder eingefallen sind. Doch dann verliere ich das Thema erneut aus den Augen.
Eigentlich schäme ich mich sogar ein wenig, denn meine inneren Filme sind immer Liebesgeschichten. Romanzen mit einem Erkenntnisplot. Er oder sie soll erkennen, dass er oder sie die Richtige ist. Während ich doch eine ernsthafte Literatin sein möchte oder eine Drehbuchautorin, die anspruchsvolle Drehbücher schreibt, keine, die sich Romanzen oder dergleichen ausdenkt.
Vielleicht hätte ich weniger streng mit mir sein sollen.
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